Reise in den Irak, 28.1. bis 4.2.2003
Eine Reportage von Uwe Menger
Bilder

Reise in den Irak

Ein zusammengefasster Bericht meiner Reiseeindrücke vom 28. Januar bis 4. Februar 2003

Im Rahmen einer von der Weyher Initiative für den Frieden organisierten Informationsreise besuchte ich mit weiteren 31 Teilnehmern den Irak.

Angeregt durch die politischen Diskussionen zur Irak-Krise innerhalb der Bremerhavener Organisation „Mut zum Frieden“ erfuhr ich über das Internet von der geplanten Flugreise nach Bagdad. Den wohl entscheidenden Antrieb bekam ich dann von der Möglichkeit sich jetzt, unmittelbar vor dem eventuellen Kriegsbeginn, mit der Lebenssituation der irakischen Bevölkerung direkt auseinander zu setzen, um dieses in Bildern fest zu halten und zu dokumentieren. So war der Kontakt zu den Weyher Friedensaktivisten schnell hergestellt. Natürlich erfolgte meine Entschluss nicht spontan, erst wollte ich mich doch zumindest von den Absichten der anderen Reiseteilnehmer überzeugen und auch meine Frau hatte noch ein Wörtchen mit zu reden. Außerdem war bei meinem Arbeitgeber noch Urlaub zu beantragen. Doch schon bald war meine Entscheidung gefallen. Positiv dazu beigetragen hatte eindeutig auch die Organisation einer Hilfsgütersammlung, welche von den Weyher Friedensaktivisten bereits angelaufen war. (Anmerkung: Es wurden insgesamt 670 kg gesammelt, der Hauptbestandteil waren etwa 400 kg Medikamente, der Rest waren in erster Linie Spiel- und Schulsachen wie z. B. Schreibblöcke, Malbücher, Plüschtiere, Schultaschen, Buntstifte....). Dann folgte ein tiefer Griff ins Ersparte, schließlich sind 1100,- € für einen Kfz-Mechaniker kein Pappenstiel.

Am 28. Januar ging es dann los. Anreise per Zug nach Frankfurt, von dort mit dem Flugzeug über Amman (Jordanien) nach Bagdad.

Im Zug dann schon gleich die erste Hiobsbotschaft. Ein Telefonanruf an Sabry, unseren Organisator: 3 Medikamente unserer 400kg schweren medizinischen Hilfsgütersammlung durften nicht eingeführt werden. Völliges Unverständnis bei uns und dem mitreisenden Arzt, da es sich um harmlose Antibiotika handelte. Was war zu tun? Die Medikamente befanden sich in einer Lagerhalle der Airline (Royal Jordanian), und in Frankfurt blieben uns nur max. 1,5 Std. Irgendwo in vielen, vielen Kisten innerhalb der kurzen Zeitspanne fündig zu werden war unmöglich, da es nur ein Gesamtverzeichnis gab. Sabry gelang es aus dem Zug per Telefon jemanden zu beauftragen, dieses in Ordnung zu bringen. Die Nachlieferung erfolgte dann 2 Tage später.

Völlig erschöpft von der langen Reise und den intensiven Zollformalitäten erreichten wir das Hotel Al Rasheed in der Nacht zu Mittwoch (29.01.03). Im 10. Stock (Zimmer 1037) einquartiert genoss ich noch für eine Minute den Blick über die Stadt und hatte unwillkürlich ein flaues Gefühl im Magen. Wie lange wird das alle noch stehen, die Gebäude dort unten und auch dieses Hotel?

Am Mittwochmorgen wachte ich durch den Geruch von Abgasen auf. Der Versuch, das Zimmer zu lüften, wurde sofort wieder aufgegeben, draußen stank es erheblich stärker. Die Sonne schien, doch die Luft über und in der Stadt war gelb und fast zum Greifen dick.

Unser erstes Zusammentreffen gleich nach dem Frühstück diente der Planung von Aktivitäten. Schulen, Krankenhäuser, internationale Hilfsorganisationen, Kirchen und Moscheen wollten wir gerne besuchen. „Gibt es die Möglichkeit nach Basrah zu fahren?“ Sabry notierte alle unsere Wünsche und versprach sich zu bemühen, möglichst Vieles davon umzusetzen.

Noch am gleichen Tag erfolgte der erste Krankenhausbesuch in Bagdad. Dort konzentrierten wir uns auf die Kinderstation und wurden sogleich mit einem entsetzlichen Notstand konfrontiert, der uns im Verlauf der weiteren Reise immer wieder begegnen sollte; die Auswirkungen des UN-Embargos.

In der Abteilung für Frühgeborene herrscht massiver Mangel an Brutkästen, es gibt nur 8, weitere 15 werden benötigt, doch das Embargo verbietet den Import. Brutkästen unterliegen dem Dual-Use-Prinzip, was nichts anders heißt, als dass sie, oder Bestandteile daraus, militärisch nutzbar sind. Deshalb sind sie Bestandteil einer 250 Seiten langen Liste von sogenannten Dual-Use-Produkten: Import verboten! Eigene Produktion nicht möglich, da auch Einzelteile nicht ins Land kommen. So gibt es allein in diesem Krankenhaus immer wieder Todesfälle von frühgeborenen Kindern, die mit der erforderlichen technischen Ausrüstung ohne weiteres überleben würden. Auch die Anzahl der Frühgeburten, so sagte der Arzt, sei ungewöhnlich hoch und führte dieses auf die starke psychische Belastung der Bevölkerung zurück.

So grotesk es klingt, doch als Kfz-Mechaniker fällt mir da ein Vergleich ein: Jeder weiß, wie hochtechnisiert inzwischen moderne Automobile sind, insbesondere wenn es sich um Luxuslimousinen handelt. Davon sahen wir nämlich eine ganze Reihe. Sie sind vollgestopft mit Hightech-Elementen der Elektronikindustrie, ebenso mit hochkomplizierten Hydrauliksystemen, winzigen Stellmotoren, Sensoren, Mikroschaltern und, und, ... und ... Alles was man in einem Brutkasten an militärisch nutzbaren Materialien und Technologie findet, ist sicher erst recht Bestandteil dieser Autos. Den neuesten S-Klasse Mercedes kann man dort jedoch, sofern man über genügend Finanzkraft verfügt, käuflich erwerben.

Dann, als wir verschiedene spärlich eingerichtete Krankenzimmer betraten, waren wir überrascht über die Herzlichkeit, mit der wir empfangen wurden. Es herrschte geradezu Begeisterung, besonders bei den Müttern, die sich bei ihren Kindern im Krankenhaus befanden. Eine besondere Faszination übten Digitalkameras auf sie aus, konnten sie doch die Bilder, die wir von ihnen aufnahmen, sofort auf dem Monitor betrachten. Mitgebrachte Plüschtiere wurden mit großen Augen in die Arme geschlossen.

Kurz darauf, wieder im Flur auf dem Weg zum Bus: Ein Mann saß zusammengekauert auf dem Fußboden (Sitzgelegenheiten gab es nicht). Es schien als habe er Schmerzen. Einer unserer arabisch sprechenden Teilnehmer sprach ihn an; er wartete auf den Tod seines Kindes.

Wir waren schockiert. Ich dachte natürlich wieder an die Brutkästen, traute mich jedoch nicht weiter zu fragen, ob es einen Zusammenhang gab.

Mit flauem Gefühl ging es dann weiter. Im Bus wurde kaum noch gesprochen. Schon jetzt gab es viel zu verarbeiten.

Nächste Station: Ein Bunker, der Bunker.

13. Februar 1991, 3.30 Uhr morgens: über 400 Menschen hatten Schutz gesucht vor den nächtlichen Bombenangriffen, eine ferngelenkte Bombe trifft das Zentrum des Bunkers und explodiert mitten im Raum, eine zweite ferngelenkte Bombe trifft exakt den Belüftungsschacht, 408 Menschen sterben, schreckliche Bilder, Ruß und Hautfetzen an den Wänden, Schatten einer Frau mit ihrem Kind auf dem Arm an der Wand, das reicht ... Jetzt wissen wir was Krieg bedeutet.

Am nächsten Tag gab es zu unserer Erleichterung mit dem Besuch des Nationalmuseums eine etwas angenehmere Veranstaltung. Ich konnte, trotz der Vielzahl der historisch unschätzbar wertvollen Ausstellungsstücke meine Gedanken kaum vom letzten Tag befreien. Leider war das Fotografieren innerhalb des riesigen Gebäudes nicht gestattet. Außer uns waren kaum Besucher anwesend.

Es war Zahltag. Alle hatten einen individuellen Betrag von Euros umzutauschen und es fand sich sogar einer aus unserer Gruppe, der eine Liste anfertigte und die Umtauschaktion für uns alle übernahm. Er kam mit gefüllten Plastiktüten zurück. Der größte gebräuchliche irakische Geldschein hat einen Wert von 250 Dinar, das entspricht 12,5 € Cent! Offiziell gibt es seit etwa einem halben Jahr auch einen 10 000 er, aber gesehen hat den von uns niemand. Weil ich 50 € getauscht hatte, erhielt ich nun 400 Scheine!! Wohin nur mit dem ganzen Papier?

Im Laufe der weiteren Tage trafen wir Vertreter verschiedener Organisationen, besonders interessant war das Gespräch mit dem Programm Manager von Care International, einer der großen internationalen Hilfsorganisationen. Dabei wurden wir wieder auf die Auswirkungen des UN-Embargos hingewiesen. Als Beispiel nannte er den erst vor 14 Tagen geschehenen Unfall eines Krankenwagens. Das Auto, so sagte er, hatte sich infolge eines geplatzten Reifens überschlagen, Totalschaden. Ursache des Unglücks waren völlig abgefahrene Reifen, die nicht ersetzt werden konnten. Der Import von Reifen sei nur sehr schwer möglich, da Reifen gemäß des Dual-Use-Prinzips militärisch (für Militärfahrzeuge) genutzt werden können. So müsse nun ein kompletter Krankenwagen beantragt werden. Die Kosten für dieses Fahrzeug würden aus dem Oil-for-Food-Programm der Vereinten Nationen beglichen, was wiederum den Etat für die Lebensmittelversorgung schmälere. Daraus würden ohnehin schon eine ganze Reihe von anderen Leistungen getragen, wie z.B. Reparationszahlungen für den letzten Krieg, sowie internationale Konferenzen mit dem Themenschwerpunkt Irak. Es blieben von den festgelegten 50 Milliarden $ nur 30 Milliarden $ zur Versorgung der Bevölkerung übrig. Das bedeute, bei 25 Millionen Einwohnern stünde somit eine Summe von 10 $ pro Einwohner im Monat zu Verfügung! Auch im Irak könne davon keiner überleben.

Originalzitat: “Es gibt Familien die verkaufen ihre Wohnzimmertüren, um ihr Überleben zu sichern.“ Und „Wir haben Leute, die 200 km fahren, um täglich 1 $ zu verdienen.“ (Anmerkung: Damit meinte er Leute, die für Care-International arbeiten)

Ähnlich absurd verhalte es sich (laut Care-International) mit der Installation und Wartung von Trinkwasserpumpen. Oil-for-Food kommt für die Beschaffung der Pumpen auf, stellt jedoch für die Installation und Wartung dieser Anlagen keine Mittel zur Verfügung. Der Staat habe wiederum, infolge des Wirtschaftsembargos, kaum Gelder für die Bezahlung dringend benötigter Fachkräfte. Die staatlichen Löhne und Gehälter seien auf ein Niveau gesunken, das weit unter dem Grenzwert der Lebenshaltungskosten läge. Fachkräfte seien abgewandert. Ein Teufelskreis; Pumpen würden oft von unqualifizierten Kräften montiert, eine Wartung ist nicht möglich. Ihre Lebensdauer sinkt dabei von normalerweise 5 bis 6 Jahren - bei fachgerechter Wartung - auf etwa 1 Jahr unter den aktuellen Bedingungen. Außerdem, so erklärte der Sprecher, sei es wesentlich einfacher, komplette Pumpen zu bestellen, als Einzelteile zu ihrer Instandhaltung, wie z.B. Dichtungen und Filter.

Die wirtschaftliche Situation breiter Bevölkerungsschichten verdeutlichte er am Verdienst eines Arztes, der in den 80er Jahren bei etwa 1500 $ im Monat gelegen habe und nun auf 20$ im Monat gesunken sei. Mit einigen Zulagen, so ergänzte er, könne ein Verdienst von 30 $ erreicht werden. Unter Berücksichtigung der veränderten Kaufkraft im Lande bedeute dieses, dass der Arzt früher etwa 5 bis 9 Jahre brauchte um ein Eigenheim zu finanzieren, heute bräuchte er dafür mindestens 100 Jahre!

In Anbetracht seiner Feststellung, dass 40 % der Bevölkerung auf die Zuteilung ihrer täglichen Lebensmittelration angewiesen sind, scheint die Gedankenspielerei mit dem Erwerb von Immobilien reine Träumerei.

Sein Vortrag stimmte uns nachdenklich, besonders als er die sehr begrenzten Möglichkeiten der Trinkwasseraufbereitung erläuterte. Es mangele an Allem und Jedem, u.a. sei die Einfuhr von Chlor (notwendig um Keime im Trinkwasser abzutöten) streng rationiert und nicht in genügendem Maße vorhanden. Die zur Trinkwasseraufbereitung benötigten Chlorsubstanzen könnten theoretisch auch im Land hergestellt werden, doch die benötigten Additive dürfen nicht eingeführt werden. Insbesondere in Kommunen mittlerer Größe sei die mengenmäßige Berücksichtigung bei der Zuteilung von technischem Gerät und weiterer Hilfsmittel nicht dem über Jahre gestiegenen Bevölkerungswachstum angepasst worden. Kläranlagen, die in den 80er Jahren zahlreich arbeiteten, funktionierten nicht mehr. In Bagdad gäbe es allerdings noch eine funktionstüchtige Anlage. Die Trinkwasserverschmutzung als unmittelbare Folge des UN-Embargos sei ein sehr großes Problem, was eindeutig die Verbreitung zahlreicher Krankheiten in enormen Ausmaßen fördere. Die stark gestiegene Vergiftung der Flüsse nähme mit ihrer Fließrichtung, also nach Süden, weiter zu.

Am 1. Februar (Samstag) ging einer unserer größten Wünsche in Erfüllung, wir flogen nach Basrah. Eine alte Boing 727 der Iraqi Airways brachte uns in den Südirak. Das Flugzeug, made in USA, war der Beweis ehemals besserer Beziehungen zwischen dem Diktator Saddam Hussein und den Vereinigten Staaten. War er damals in den 80er Jahren, als er mit Giftgas gegen den Iran kämpfte, noch kein Schurke? Diese Frage drängte sich mir unwillkürlich auf, als ich mich für das Flugzeug interessierte. Aus der Luft schon im Landeanflug waren viele Panzer und Sandwälle zu sehen, ein merkwürdiges Gefühl. Später als wir im Bus näher herankamen, erkannten wir nichts als Wracks. Ein Bluff, um Militärpotenz vorzutäuschen? Wohl kaum, so dumm können amerikanische und englische Luftaufklärer nicht sein, dass sie sich davon blenden ließen. Vielleicht ist es einfach nur ein Entsorgungsproblem oder eine Art von Heldenverehrung? Wir vergaßen dieser Frage nachzugehen, andere Dinge wurden viel wichtiger, nahmen uns völlig in Anspruch.

Erstes Ziel in Basrah: Das Krankenhaus für krebskranke Kinder. Auf dem Weg dorthin einprägsame Umweltverschmutzung, wohin man nur sieht. Sichtbare Armut noch viel intensiver als in Bagdad. Basrah ist eben nicht die Hauptstadt, Basrah liegt in der Flugverbotszone, Basrah war 1991 und schon davor Zentrum des Kampfes, der Bombardierungen und der Verseuchung der Umwelt. Basrah bedeutet auch heute noch Krieg, denn dort ist der Krieg nie ganz verschwunden. Luftalarm ist dort nichts Ungewöhnliches.

Das Kinderkrankenhaus ist der Beweis für die Auswirkungen des Krieges auf unschuldige Menschen und hier besonders auf unschuldige Kinder. Dort angekommen öffneten wir erst einmal den Laderaum des Busses. Viele von uns hatten bis zum Abreisetag in Deutschland Medikamente gesammelt. Hier war sicher eine gute Adresse für unsere privaten Bemühungen. Wir trugen etliche gefüllte Koffer und Reisetaschen in den spartanisch eingerichteten Konferenzraum.

Der stellvertretende Leiter sprach von ernormen Umweltbelastungen seit Ende des letzten Krieges und gleichzeitigem Anstieg der verschiedensten Krebsarten. In der Umgebung wurde mit abgereichertem Uran gehärtete Munition verwendet. Auf vielen Fotos sehen wir schwerste Missbildungen der hier behandelten Kinder.

Ich dachte an die vielen alten Panzerwracks, die vor der Stadt im Staub der Wüste stehen. Uranhaltige Munition kann diese Panzerwände durchdringen. Die Geschosse zerplatzten und bildeten kleinste radioaktive Partikel. Diese verteilten sich in der Umgebung. Halbwertzeit: ein paar Millionen Jahre? Die Langzeitwirkung eingeatmeter radioaktiver Staubpartikel ist unbestritten. Alphastrahlung mit sehr kurzer Reichweite greift die Körperzellen an, Veränderung des Erbgutes nicht ausgeschlossen!

Veränderungen des Erbgutes, schwerste Missbildungen bei Kleinkindern; im Kinderkrankenhaus von Basrah gibt es Einblicke in die Auswirkungen von Krieg, die wir niemals vorher so massiv erlebten. Das war nicht die Erinnerung an einen vergangenen Krieg, dort ist noch immer Krieg.

Bei dem folgenden Rundgang durch verschiedene heruntergekommene einfachste Zimmer bekamen wir viel Trauriges zu sehen, doch was uns wieder einmal überraschte, war die freundliche, sogar herzliche Begrüßung der Menschen. Es gab keine Scheu. Mütter mit ihren kranken Kindern baten sogar darum fotografiert zu werden. Wir verteilten Plüschtiere, strahlende Augen waren der Dank. Ein kleiner Junge, der nicht mehr laufen konnte, winkte uns zu. Vermutlich waren wir seit langem eine interessante Abwechslung im tristen Krankenhausalltag. Gerade hier in diesem Hospital gibt es nur wenig Grund zur Freude.

Beim Abschied dann großer Frust. Alle mitgebrachten Medikamente durften nicht im Krankenhaus bleiben. Die Bemühungen des Arztes waren vergeblich. Alle medizinischen Hilfsgüter werden vom Gesundheitsministerium verteilt, Spenden direkt an das Krankenhaus sind nicht möglich. Wir fragten uns natürlich: „Was soll diese Bürokratie?“ „Vielleicht will Saddam sich erst einmal selbst versorgen?“, vermutete einer meiner Mitreisenden. Es gibt unter uns aber auch Verständnis dafür, als man erklärt, dass gerade in dieser Zeit besondere Vorsichtsmaßnahmen getroffen werden. Es wurden zum Teil schlechte Erfahrungen mit abgelaufenen Medikamenten gemacht, und es besteht, zumindest theoretisch, auch für die irakische Bevölkerung ein Sicherheitsrisiko.

Zum Glück fand sich dann noch die Möglichkeit, direkt zum Roten Halbmond in Basrah zu fahren. Der Rote Halbmond hat dort eine ähnliche Funktion wie bei uns das Rote Kreuz und er übernimmt (zumindest in Basrah) auch die Funktion der Lebensmittelsammelstelle für das staatliche Ernährungsprogramm.

Als unser Bus anhielt, dauerte es nicht lange und wir waren umgeben von einer Menschentraube. Hauptsächlich Mütter mit ihren Kindern, die offensichtlich auf ihre Lebensmittelzuteilungen warteten, scharten sich um uns. Als wir dann Kofferweise Medikamente aus dem Laderaum des Busses holten, war ihnen das Erstaunen direkt von den Gesichtern abzulesen. Uns war inzwischen klar, wie dringend selbst einfache Antibiotika benötigt werden.

Anschließend folgte noch der Besuch eines Waisenhauses und eines Altenheims in Basrah. Allein die kurze Fahrt mit dem Bus dorthin vermittelte mir Eindrücke, die ich nicht in wenigen Sätzen wieder geben kann. Straßen, Fahrzeuge, Gebäude: alles wirkte deprimierend. Wie können die Menschen hier noch leben? Autos, die ich dort sah, findet man in Deutschland nicht einmal beim Schrotthändler. Gebäude im Zustand des fortgeschrittenen Verfalls werden als Wohnungen genutzt. Trotz der augenscheinlich hoffnungslosen Situation schaffen es die Einwohner, mit diesen Bedingungen zurecht zu kommen. Ein zufriedenes oder gar glückliches Leben führt dort mit Sicherheit niemand. Noch schlimmer als für den „normalen Einwohner“ ist die Situation für alte Menschen ohne Familienanschluss, für Kranke und für Waisenkinder.

Es war Wochenende und im Waisenhaus befanden sich nur noch die Kinder, die absolut niemanden hatten. Viele Kinder haben zumindest entfernte Verwandte, die sie an den Wochenenden zu sich nach Hause nehmen. Die anfängliche Scheu uns Fremden gegenüber hatte sich natürlich schnell gelegt, und wieder einmal boten wir eine willkommene Abwechslung. Da nur wenige Kinder im Haus waren, konnte man sich etwas intensiver miteinander beschäftigen und schließlich, als wir fort mussten, war der eine oder andere sogar ein wenig traurig.

Nach einigen Tagen Aufenthalt im Irak hatten wir so viele Eindrücke gesammelt, dass wir immer intensiver das Bedürfnis hatten, aktiv etwas zu tun, und wir beschlossen eine eigene Demonstration vor dem UN-Gebäude in Bagdad durchzuführen. Die internationalen Medien wurden von uns über das im Hotel befindliche Medienzentrum informiert. Als wir am 2. Februar dort eintrafen, wurden wir bereits von etlichen Kamerateams erwartet. Eine von uns vorbereitete Erklärung an die Öffentlichkeit und die Presse wollte von den UN-Mitarbeitern niemand entgegennehmen, doch das erweckte gesteigertes Interesse bei den Medienvertretern, und bald fanden wir uns umzingelt von internationalen Kameras und Mikrofonen. Merkwürdig war die Situation zu den irakischen Soldaten, die ihre Aufgabe wahrnahmen, das UN-Gebäude vor uns zu „schützen“. Viel Arbeit hatten sie da allerdings nicht, unsere friedliche Absicht war offenkundig. Da die Erklärung nicht übergeben werden konnte, sollte sie wenigstens sichtbar hinterlassen werden. Zwei Teilnehmer erhielten die Erlaubnis, unsere Erklärung und ein kleines „NO WAR“ Plakat an das Fenster des Pförtnerhäuschens zu kleben.

v Schlussbemerkungen:

Dieser kurze Bericht stellt nur einen kurzen Auszug meiner Reiseeindrücke dar. Viele Dinge, die andere vielleicht für wichtig halten, habe ich nicht erwähnt so z. B. das Gespräch mit dem irakischen Vizeministerpräsidenten, Tarik Asis, in einem Regierungspalast. Was er uns mitteilte, war nicht besonders spannend (jedenfalls nicht für mich) und es war auch nichts Neues. Er kritisierte die amerikanische Außenpolitik und bekundete die Bereitschaft auf der irakischen Seite alles erdenkliche zu tun, um diesen Krieg zu verhindern, den man nicht will. Interessant war für mich eher die einfache Tatsache, dass es überhaupt zu diesem Gespräch, um das wir baten, kam. Denn wer sind wir denn, doch nur ein unbekannter Haufen zusammengewürfelter Friedensaktivisten ohne irgendwelche Bedeutung.

Ich hatte den Eindruck, die Irakische Führung klammere sich an jedem Strohhalm, der sich ihnen bietet.

Als Hobbyfotograf interessierte es mich viel mehr, die Menschen zu betrachten, möglichst mit ihnen zu sprechen, um Eindrücke zu gewinnen und sie zu fotografieren. Gerade das Fotografieren von Gesichtern stellte ich mir in diesem Land nicht so einfach vor, doch dann wurde ich positiv überrascht. Ich habe natürlich immer gefragt bzw. ihnen per Handzeichen meine Absichten symbolisiert und 99% waren einverstanden, viele sogar begeistert. Nicht selten riefen sie schnell noch ein paar Bekannte hinzu, die unbedingt noch mit aufs Bild sollten.

Armut und Elend sind im Irak nicht zu übersehen, aber die Menschen leben ihren Alltag. Sie sitzen nicht zitternd in der Ecke und warten auf den Kriegsbeginn. Den Gedanken an Krieg haben viele verdrängt, er wird ganz einfach überlagert von der extremen Lebenssituation, der sich die irakische Bevölkerung jetzt schon zu stellen hat. Das gilt sicher nicht für jeden Iraker, aber mit Sicherheit für einen sehr großen Bevölkerungsanteil.

Ich bin der festen Überzeugung, dass ein Krieg für das quasi am Boden liegende irakische Volk verheerende humanitäre Auswirkungen haben muss, denn es verfügt nicht zuletzt als Folge des für sie unmenschlichen Embargos über keinerlei psychische und physische Reserven. Das wird mit Sicherheit jedem bewusst, der sich mit offenen Augen in diesem Land bewegt. (Und ich frage mich tatsächlich, wie es wohl den internationalen Waffeninspektoren dort geht)

Zu der Frage des Embargos kann ich nur sagen, dass ich früher eine ganz andere Meinung dazu hatte, es bestand in meinen Augen eine gute Möglichkeit damit, eine Diktatur in die Knie zu zwingen. Dieses ist keineswegs so, das Embargo wirkt genau entgegengesetzt, ist kontraproduktiv. Die Bevölkerung leidet ganz enorm unter diesen Sanktionen, für die Iraker existiert nicht das Problem der Diktatur, sondern das Problem des Überlebens. Hier teile ich inzwischen meine Meinung mit Hans von Sponek, den wir zufällig in Amman auf dem Flughafen trafen. (Hans von Sponek war von September 1998 bis März 2000 Leiter des UN-Programms Öl für Nahrungsmittel und trat aus Protest gegen die Wirtschaftssanktionen von seinem Amt zurück.)

Insgesamt überrascht war ich auch über die erstaunlich große Bewegungsfreiheit, die wir hatten. Erstmals unfreiwillig kam ich in diesen Genuss, als ich im Gedränge eines Basars beim Filmwechsel den Anschluss an unsere Gruppe verlor und plötzlich allein da stand. Mein angespanntes Gefühl legte sich schnell, denn die Freundlichkeit dieser armen Menschen ist einfach überwältigend. Schnell kam ich ins Gespräch mit einem Jungen, der mir Brötchen verkaufen wollte. Ich gab ihm einen 250 Dinar-Schein (12,5 €Cent) und erhielt gleich 5 Stück, 4 davon gab ich gleich an seine Freunde weiter, die ganz einfach Hunger hatten. Schon waren wir alle zufrieden. Diese kleinen Freiheiten wurden später natürlich auch stärker in Anspruch genommen und einige erkundeten die Stadt (Bagdad) schließlich per Taxi auf eigene Faust.

Immer wieder gab es kleine Erlebnisse, die uns in Erinnerung bleiben werden: So vermisste ein Reiseteilnehmer seine wertvolle Kamera, doch am nächsten Tag hatte er sie wieder. Das Reinigungspersonal hatte sie im Bus gefunden, sie muss ihm vom Sitz gefallen sein.

Uwe Menger


An die Presse, an die Öffentlichkeit!

Erklärung der 'Weyher Initiative für den Frieden', die der UN-Vertretung in Bagdad übergeben werden sollte, aber nicht angenommen wurde

Im Rahmen einer von der Weyher Initiative für den Frieden organisierten Informationsreise besuchten wir, 32 Teilnehmerinnen und Teilnehmer einer internationalen Delegation aus Deutschland, den Irak. Zwischen dem 28.01 und 4.02.03 hatten wir die Möglichkeit, in Krankenhäusern, Gedenkstätten, Kirchen, Moscheen, Bildungs- und Kultureinrichtungen Gespräche zu führen, mit Vertretern von Hilfs- und Solidaritätsorganisationen zusammenzutreffen und Einblicke in den Alltag des leidgeprüften irakischen Volkes zu erlangen. Obwohl wir über Vorinformationen, die Ausmasse in Hinblick auf das Irakerinnen und Irakern zugefügte Leid betreffend, verfügten, sind wir doch über die unmittelbaren Eindrücke zutiefst erschüttert.

Wir wurden Augenzeugen über die Folgen der nunmehr seit zwölf Jahren währenden Blockade, die ein Land trifft, dessen Infra- und Versorgungsstruktur durch das Bombardement seitens der USA und Englands im Jahre 1991 schwer zerstört wurde; seitdem vergeht kaum ein Monat, kaum eine Woche, in der nicht der eine oder andere Ort im Irak aus der Luft angegriffen wird. Die Blockade schnürt das Land zusätzlich vom Import dringend benötigter Versorgungsgüter ab, seien es Medikamente, Ersatzteile für z.B. Wasserpumpen oder Chemikalien, die zur Herstellung von Chlor für die Trinkwasserwiederaufbereitung benötigt werden. Krieg und Blockade haben den Irak, der noch in den achtziger Jahren ein wohlhabendes Land und von höchstem Bildungs- und Kulturstandard ausgezeichnet war, in Armut gestürzt. Unter der Blockade leiden vor allem die schwächsten Glieder der Gesellschaft, die Neugeborenen, die Kinder, die Alten und die Kranken.

Der Besuch von Kinderstationen in Krankenhäusern in Bagdad und Basra führte uns dies besonders schmerzlich vor Augen. Wir trafen dort auf Kinder, die mit Leukämie und anderen Krebserkrankungen eingeliefert waren - die rapide angestiegene Krebsrate unter Kindern ist auf den tonnenweisen Einsatz von uranhaltiger Munition der USA 1991 zurückzuführen -, denen kaum Zeit zu leben bleibt, weil die Blockade sowohl die Einfuhr notwendiger Diagnose-instrumente als auch die von Medikamenten verhindert. Auch Brutkästen - in Folge u.a. von Kriegstraumata gibt es eine hohe Rate von Frühgeburten - fallen unter die Blockadebestimmungen; die Provisorien können das Uberleben der Neugeborenen kaum, trotz aller medizinischer Mühen gewährleisten. Nicht anders sieht es bei Darm-, Nieren-, Leber-, Infektions- und anderen Erkrankungen aus. Viele der schweren Erkrankungen waren vor 1991 im Irak unbekannt und konnten, wenn sie vereinzelt vorkamen, geheilt werden. Monatlich fallen der durch die Blockade verursachten Grund- und medizinischen Versorgung an die sechstausend Kinder zum Opfer. Wir können an dieser Stelle nicht im einzelnen auf die Folgen von Krieg und Blockade auf Mensch und Umwelt eingehen.

Das erschreckende ist nicht, dass es etwa auch in Deutschland keine Informationen darüber gäbe, sondern dass sie keine ausreichende Öffentlichkeit finden. Wir wollen deshalb dazu beitragen, diese Blockade, die die Öffentlichkeit auch in Deutschland trifft, zu überwinden. Auch das Recht auf Wahrheit ist ein Menschenrecht. Deshalb verurteilen wir alle Regierungen, die dieses missachten.

Zu welchen Verbrechen an der Menschheit die kriegsführenden Mächte bereit sind, wurde uns während des Besuchs des Al-Amareya Bunkers, der heute eine Gedenkstätte ist, deutlich. Der Zivilschutzbunker wurde von einer US-amerikanischen Bombe durchbohrt. Nachdem die Rakete durch die zwei Meter dicke Stahlbetondecke gedrungen war, detonierte sie erst in der Tiefe der Erde, wo über vierhundert Menschen Schutz gesucht hatten. Eine zweite Bombe (Vakuumbombe) - sie entzieht für einen Bruchteil einer Sekunde jegliche Luft - zerfetzte buchstäblich vierhundertundacht Kinder, Frauen und Männer im Bunker. Keiner sollte überleben.

Aggression, Blockade und die ständige Androhung der Eskalation des Krieges sind die eine Seite, von der wir nur eine leise Ahnung haben können, wie es sein muss, ständig unter diesen Bedingungen leben zu müssen. Die andere Seite, von der wir erfuhren, ist gekennzeichnet durch den bewundernswerten Willen des irakischen Volkes, das Land - trotz aller nur denklichen Schwierigkeiten - aufzubauen und lebenswert zu gestalten.

Wir haben den Eindruck gewinnen können, dass sich das irakische Volk niemals dem Uberlegenheitswahn der Mächte wird beugen, die Grösse nur als Zerstörungspotential kennen; im Gegenteil die Würde des irakischen Volkes ist nicht zu brechen. Deshalb ist der Krieg im Irak uns oft weniger präsent als in Deutschland. Der Alltag im Irak ist von einer allgegenwärtigen Atmosphäre des Friedens und des konstruktiven Miteinanderlebens und -gestaltens geprägt.

Auch davon konnten wir uns überzeugen, sei es in den christlichen Gottesdiensten oder vor islamischen Pilgerstätten (z.B. in Kerbela). Wo immer wir Irakerinnen und Irakern begegneten, sie kamen mit Gastfreundschaft, Offenheit und Herzlichkeit auf uns zu. Das im Irak vitale Lebensprinzip hat eine lange Geschichte im Irak. Sie reicht von vor Jahrzehntausenden, den grossen Zivilisationen eines Babylons, über die arabisch-islamischen Kulturepochen bis in die Gegenwart. Die Geschichte ist getragen von Errungenschaften zum Fortkommen und Wohlergehen der Menschen, sei es die Erfindung der Landwirtschaft oder die Gründung der frühesten Universitäten im 9. Jahrhundert. Krieg und Blockade soll nicht zuletzt auch dieses kulturelle Erbe der Menscheit zu erst zu Nichte, um es dann vergessen zu machen. Wir sind gewiss, dass das irakische Volk alles dafür geben und tun wird, dass das niemals dank seiner Widerstandsbereitschaft eintreten wird. Wir sehen in der aufgeschlagenen Brücke des Friedens erst den Anfang unsern Engagements, das wir weiterhin durch Austausch und Solidarität entfalten möchten.

  • Schluss mit Hungerblockade gegen das irakische Volk und andere Länder des Südens!
  • Rückzug der US-NATO-Truppen in die Kasernen, aus denen sie gekommen sind!
  • Keine Einmischung in die inneren Angelegenheiten von Staaten!
  • Freiheit und Selbstbestimmungsrecht AUCH für das palästinensische Volk!
  • Frieden und Gerechtigkeit für die Welt!

Ein Krieg des militärisch-industriellen Komplexes und der Öllobby

Tarik Asis, stellvertretender Ministerpräsident des Irak, beim Gespräch mit der 'Weyher Initiative für den Frieden' in Bagdad am 2. Februar 2003

Das deutsche Volk und die Deutsche Bundesregierung haben sich gegen die Aggression ausgesprochen. Während Ihres Besuches werden Sie feststellen, dass das irakische Volk das sehr schätzt. Zwischen dem irakischen und deutschen Volk bestehen keine Feindseligkeiten. Deshalb ist die Haltung des deutschen Volkes und der deutschen Regierung richtig. Richtig in praktischer, gesetzlicher und moralischer Hinsicht.

Diese amerikanische Aggression findet nicht wegen Massenvernichtungswaffen statt. Die Suche nach Massenvernichtungswaffen geht nach gewissen, bekannten Methoden vor. Die Inspektoren sind zur Zeit in großer Anzahl in Bagdad. Sie haben alle Arbeitsmittel und hochentwickelten Geräte. Es gibt auch eine Tatsache, die den Fachleuten bekannt ist, dass diese hochentwickelten Geräte im Stande sind, festzustellen, ob an einem bestimmten Ort irgendwelche Aktivitäten stattfinden, beziehungsweise stattgefunden haben. Finden irgendwelche Aktivitäten statt, dann sind diese hochentwickelten Geräte im Stande, darauf hinzuweisen, auch für den Fall, dass sie an einen anderen Ort transportiert werden.

Die Inspektoren haben bis jetzt über dreihundert Orte unter Verwendung dieser hochentwickelten Geräte inspiziert, ohne jegliche Hinweise auf Massenvernichtungswaffen feststellen zu können. Sie haben weiterhin die Möglichkeit, ihre Arbeit fortzusetzen, wo auch immer sie wollen. Wir öffnen ihnen die Türen. Wir beantworten alle Fragen.

Warum sagt Bush: Die Zeit rennt? Time is running. Warum sagt er das?

Selbst wenn die Inspektoren ihre Arbeit für weitere Monate fortsetzen würden, würden sie keine Massenvernichtungswaffen im Irak finden. Es wird aber festgestellt werden, dass er (Bush) gelogen hat. Er will eine angespannte Lage jetzt schaffen, bevor die Aufgabe der Inspektoren abgeschlossen ist, und er die Aggression in einer, angespannten und zweifelhaften Situation führen kann. Das ist der Grund, weshalb Bush - und mit ihm Blair - zur Eile treiben. Das ist eine nach allen Maßstäben falsche Haltung.

Als Südafrika entschieden hatte, auf sein Atomprogramm zu verzichten, sagte Al-Baradai (Direktor der Internationalen Atomenergiebehörde), habe die Arbeit dafür zwei Jahre in Anspruch genommen. Hier sind die Inspektoren erst zwei Monate.

Warum gibt er (Bush) den Inspektoren nicht genug Zeit, ihre Arbeit zu erledigen? Er (Bush) sagt, Irak sei im Besitz von (verbotenen) Waffen und der Irak solle diese vorzeigen und den Inspektoren zur Vernichtung übergeben. Wir sagen: Wir verfügen über keine Massenvernichtungswaffen. Wer fällt hier das richtige Urteil? Es sind die Inspektoren. Sie kommen, inspizieren die Orte und entscheiden, ob es solche Waffen gibt oder nicht.

Dies bezeugt, was wir schon gesagt haben. Das Ziel sind nicht die Massenvernichtungswaffen; sie sind nur Vorwand. Er (Bush) war überrascht, als Irak der Rückkehr der Inspektoren zugestimmt hat. Er war nicht glücklich darüber. Vergleichen Sie die Haltung Ihrer Regierung mit der Bush-Administration.

Weil Deutschland keine anderen Ziele verfolgt, sagte die deutsche Regierung , als Irak der Rückkehr der Inspektoren zugestimmt hatte, dass dieses in Ordnung sei. Er (Bush) war überrascht, wurde nervös und drängte zur Eile, bevor die Wahrheit zum Vorschein kommt. Das bestätigt, dass das amerikanische Ziel der Kolonialismus ist. Die USA wollen den Irak kolonisieren und die Herrschaft über sein Öl erlangen. Wenn sie über den Ölreichtum des Iraks (die zweitgrößten Ölreserven der Welt) verfügen würden, könnten sie über Industrie und Handel des Erdöls bestimmen. Sowohl im Irak, als auch in Saudi-Arabien und allen Golfstaaten.

Ist das eine Gefahr für uns allein, oder auch für alle anderen?

Das ist natürlich zu aller erst eine Bedrohung für den Irak und würde die Kolonialisierung unseres Landes bedeuten, stellt aber auch eine Gefahr für alle ölimportierenden Länder dar.

Zur Zeit kauft Deutschland das Öl zu marktüblichen Preisen von Irak, Saudi-Arabien und Qatar. Es bestehen Handelsbeziehungen auf Tauschbasis. Wir verkaufen Deutschland Erdöl und kaufen dort unterschiedliche Waren. Aber, wenn die amerikanischen Ölkonzerne über das irakische Öl verfügen, wird das anders aussehen. Sie (die USA) werden Euch Forderungen stellen und das Öl als Mittel zur Durchsetzung ihrer politischen Hegemonie über Deutschland, Europa, Indien u. a. nutzen.

Das trifft sogar auf China zu, da es Öl importiert. Deshalb hat dieser Feldzug gegen den Irak einen internationalen imperialistischen Charakter.

Wir schätzen eure Solidarität mit uns. Das ist eine aufrichtige Haltung und wir danken euch dafür. Das Verhindern des Krieges liegt auch in Ihrem und dem Interesse Ihres Volkes. Deutschland verdient es, unabhängig zu sein und es steht ihm frei, mit wem auch immer, auf der Basis von Unabhängigkeit und Gleichberechtigung zu kooperieren, sei es der Irak oder die USA. Der amerikanische Krieg würde dazu führen, dass viele Völker, einschließlich des deutschen, ihre Unabhängigkeit einbüßen würden.

Um unsere Rechte und Unabhängigkeit zu wahren, müssen wir Hand in Hand zur Erreichung dieser würdigen Ziele unseren Kampf gegen den amerikanischen Krieg fortsetzen. Wir fordern Euch auf, eure Aktivitäten fortzusetzen, damit Ihre Regierung Ihre Haltung beibehält. Deutschland ist ein wichtiges Land in Europa. Es ist ein Mitglied des Sicherheitsrates und hat in diesem Monat dessen Vorsitz. Das gibt Deutschland gute Möglichkeiten, dem amerikanischen Kriegstreiben Widerstand zu leisten.

Wir sind keine Feinde des amerikanischen Volkes. Wir propagieren keinen Hass gegenüber dem amerikanischen Volk. Die amerikanische Regierung hat nicht das Recht andere zu unterwerfen. Warum wollen die USA die politische Führung des Iraks wechseln? Was hat die USA damit zu tun? Irak ist ein unabhängiges Land und bestimmt seine Führung selbst.

Sind die USA diejenigen, die Geld in den letzten hundert Jahren für das irakische Volk ausgegeben, Schulen und Krankenhäuser errichtet, Essen und Medikamente gewährt haben, um ihm seine politische Führung vorzuschreiben? Die Antwort lautet natürlich: Nein.

Die andere wichtige Frage lautet: Ist dieser Krieg im Interesse des amerikanischen Volkes? Ich habe im Internet Aussagen unzähliger amerikanischer Persönlichkeiten gelesen, die besagen, dass sich dieser Krieg gegen das amerikanische Volk richte.

Wenn die USA Hunderte von Milliarden Dollar, um den Irak zu zerstören und zu unterwerfen, ausgeben - wer soll für dieses Geld aufkommen?

Es sind selbstverständlich die Steuerzahler, tax payers. Statt dieses Geld für Bildung, Gesundheitswesen und Wohnmöglichkeiten für die Obdachlosen in Amerika zu verwenden, kauft man Panzer, Kampfflugzeuge, Raketen und Bomben, um die Irakerinnen und Iraker zu bombardieren und zu vernichten.

Das ist ein Krieg des militärisch-industriellen Komplexes und der Öllobby und kein Krieg des amerikanischen Volkes. Deshalb sehen wir große Antikriegsdemonstrationen in den USA selbst, in Los Angeles, New York, Washington und allen US-Staaten.

Die integren Leute, wie ihr, sagen selbst in den USA „Nein“ zum Krieg. So sind die Tatsachen. Wir müssen gegen diesen Krieg kämpfen. Es ist ein verbrecherischer Aggressionskrieg, dessen Ziel die Zerstörung und dessen Beweggründe kolonialistische Habgier sind.

Danke


Frieden ist Menschenrecht!

Rede von Angelika Claußen (IPPNW) bei der Demonstration gegen den geplanten Irak-Krieg, Berlin, 15.2.2003

Liebe Friedensfreundinnen und Friedensfreunde, sehr geehrte Damen und Herren.

Wir alle sind heute hierher gekommen, um gemeinsam gegen den angekündigten und zutiefst menschenverachtenden Angriffskrieg der Regierungen Bush und Blair zu protestieren.

Erlauben Sie mir, mit Ihnen zunächst die Erfahrungen meiner Irakreise im Januar dieses Jahres zu teilen. Ich bin als Ärztin in den Irak gefahren, weil ich meine eigene Hilflosigkeit angesichts der laufenden Kriegsvorbereitungen nicht mehr ertragen konnte. Ich wollte mit eigenen Augen sehen, wie es den Menschen in diesem Land geht. Mir war klar, dass es eine bedrückende Reise wird, denn die Folgen der nun schon seit 12 Jahren bestehenden Sanktionen waren mir bekannt:

Tatsache ist:
  • dass der Irak zu den fünf armsten Ländern der Welt gehört
  • dass durchscnittlich jeden Tag 250 Menschen an den Folgen der Sanktionen sterben
  • dass jedes 8. Kind im Irak stirbt bevor es sein fünftes Lebensjahr erreicht. Die Ursachen: Durchfallerkrankungen, Atemwegserkrankungen und keine Medikamente, die zur Behandlung nötig sind.
  • dass 32 % aller Kinder unterernährt sind dass 2/3 der irakischen Bevölkerung als einzige Einnahmequelle nur den Lebensmittelkorb aus dem Nahrungsmittel-für -Öl-Programm besitzen. Das heißt, 2/3 der Bevölkerung dieses Landes ist bettelarm und das seit 12 Jahren.
  • dass der Irak eine der höchsten Kinderleukämieraten der Welt hat.
Irakische Ärzte machen dafür das die 300 Tonnen Urangeschosse, die im Golfkrieg 1991 eingesetzt worden sind, verantwortlich. Die Kinderleukämierate ist um 250 % gegenüber 1991 angestiegen. In Basra einer Stadt im Süden Landes, wo besonders viel Urangeschosse abgeworfen wurden, kommen 3 % der Kinder schwerst missgebildet auf die Welt, Es sind bizarre Missbildungen, die wir Mediziner normalerweise in unseren Lehrbüchern nicht finden. Sie erinnern an die Missbildungen, die wir nach Tschernobyl sahen.

Das Elend der Menschen, ihre Hoffnungslosigkeit zu sehen und mitzuerleben, ist für einen mitfühlenden Menschen kaum zu ertragen. Immer wieder müssen die Ärzte in den Krankenhäusern ihren Patienten sagen: wir können nicht helfen, denn das Antibiotikum oder das Mittel gegen den Krebs ist nicht vorhanden. Eine unmenschliche Triage!

Eine Kollegin aus Österreich, die seit 10 Monaten versucht, die Geräte für eine Blutbank nach Basra Zu bringen, bekommt bisher nur abschlägige Antworten von dem Sanktionskomitee. Der amerikanische Vertreter im Sanktionskomitee antwortete auf ihre Bitten, dem Transport der notwendigen Geräte nun endlich zuzustimmen: "Ich rede mit Ihnen nicht über leukämiekranke Kinder, ich rede mit Ihnen nur über das Regime von Saddam Hussein".

Ich denke, dieser Satz macht die ganze Menschenverachtung der Kriegsplaner in den USA deutlich: Es geht hier nicht um Massenvernichtungswaffen und es geht nicht um die schrecklichen Menschenrechtsverletzungen, die der irakische Herrscher Saddam Hussein zu verantworten hat.

Das zeigen auch die neuesten Verlautbarungen über die Kriegsstrategie der Militärplaner. "Schock und Furcht" - nennen sie ihr Programm. Der US-amerikanische Militärstratege Harlan Ullmann spricht von 400 Cruise Missile-Bomben, die täglich über dem Irak abgeworfen werden sollen. Er schwärmt davon, dass es so sein wird wie in Hiroshima, nur dass es nicht Wochen und Monate, sondern nur wenige Minuten dauere. Die Hundertausende von Menschen, die sterben werden, die Millionen von Flüchtlingen erwähnt er nicht.

Was können die KriegsgegnerInnen, die Friedensbewegung tun? Sind wir nicht gefangen zwischen zwei großen Übeln: Auf der einen Seite die Bush-Regierung, die imperiale Herrschaftsinteressen, hier im Nahen Osten die Kontrolle über die Ölströme u.U. mit allen Mitteln einer Großmacht, eben auch Krieg und Terror durchzusetzen bereit ist und auf der anderen Seite ein brutaler Diktator, der sein eigenes Volk als Geisel benutzt, Giftgas gegen seine eigenen Bürger einsetzt?

Ich denke, dass wir, die Friedensbewegung zuallererst einen langen Atem, Geduld und Zuversicht in unsere eigene Stärke benötigen.

Aus der Erfahrung der letzten zwei Weltkriege und vieler anderer wissen wir: Krieg ist keine Löung für die anstehenden Probleme. Der Krieg ist wie eine Wunde in der Seele des Menschen, und der Schmerz in ihr ruft nach immer grausameren Taten. So wird ein Krieg gegen den Irak die Bildung von neuen Terror-Gruppen immer weiter steigern, ein Vielfaches an terroristischen Anschlägen auf der ganzen Welt ist die Folge.

Die Friedensbewegung hat eine Vielzahl von Alternativen zum Krieg:

a) zum Irak-Krieg:
  • Zuallererst die Fortsetzung der Waffeninspektionen, denn diese sind bisher höchst erfolgreich
  • Möglichst viele Staaten in der EU, Russland und die Türkei sollen die Präventivkriegsstrategie der USA verurteilen und eine Vermittlungsinitiative anbieten.Die darauf folgenden einzelnen Schritte sind bekannt: Rücknahme der Stationierungs- bzw. Überflugrechte, Rücknahme der Spürpanzer für die Bundesrepublik, keine AWACS-Aufklärer in die Türkei.
  • Die EU sollte einen Dialog-Prozess im Nahen Osten initiieren ähnlich dem KSZE- Prozess während des Ost-West-Konflikts. Thema: Abrüstung von Massenvernichtunswaffen im gesamten Nahen Osten einschließlich Israel und Iran), Lösung des Isreal/Palästina-Konflikts
b) Unabhängig vom drohenden Irak-Krieg:
  • Die EU muss in den Katalog der Grundwerte der Europäischen Union auch friedenspolitische Ziele aufnehmen. Sie muß den Einsatz militärischer Gewalt als Mittel für die Lösung internationaler Streitfälle verurteilen. Sie muss sich zum Vorrang ziviler Konfliktschlichtung bekennen.
Auch wenn diese Vorstellungen im Augenblick angesichts der aus den USA herüberschwappenden Verunglimpfungen utopisch klingen mögen: Wir wissen, dass viele amerikanische Bürgerinnen und Bürger unsere Ziele teilen. Amerikanische Bischöfe, ja ganze Städte in den USA haben sich gegen den Krieg ausgesprochen und begreifen jedes mutige Wort eines europäischen Regierungschefs und insbesondere auch die Äußerungen unserer Regierung als Unterstützung für das andere Amerika, für das Amerika des Friedens und der Demokratie. Unsere Regierung muß sich wesentlich mutiger und entschlossener für den Frieden einsetzen.

Frieden ist Menschenrecht. Hier und überall auf der Welt.

Quelle: http://www.uni-kassel.de


US-Doktrin: Zerstörung der Lebensgrundlagen eines Staates

Aus dem Vortrag "Krieg gegen Irak - Frieden schaffen mit aller Gewalt?" von Jürgen Rose, Oberstleutnant der Bundeswehr

Die militärische Operationsführung mit konventionellen Waffen folgt dem seit dem Golfkrieg 1991 von den USA unter dem Rubrum »Revolution in Military Affairs« entfalteten neuen Paradigma. Dieses basiert auf ihrer beispiellos überlegenen Rüstungstechnologie und manifestiert sich in Doktrinen, welche die amerikanischen Streitkräfte unter den Termini »Joint Vision 2010«, »Concept for Future Joint Operations«, »Joint Vision 2020« und »Force XXI« entwickelt haben. Die strategische Zielsetzung dieser Konzeptionen besteht im Kern darin, “[to] provide America with the capability to dominate an opponent across the range of military operations. This Full Spectrum Dominance will be the key characteristic we seek for our Armed Forces in the 21st century.” Diesem Paradigma zufolge werden Kriege mit Hilfe von High-Tech-Waffensystemen geführt, - Waffen, auf welche die USA und ihre Rüstungsindustrie ein Quasi-Monopol besitzen. Es handelt sich hierbei vor allem um überlegene, weltraum- und luftgestützte Aufklärungssysteme, modernste Informations- und Führungstechnologie sowie konkurrenzlos überlegene Luftkriegsmittel. Dieses Instrumentarium soll die Kriegführung aus der Distanz ermöglichen, eigene Verluste vermeiden und auch gegnerische soweit wie möglich verringern. Wenn überhaupt, kommen bodengebundene Streitkräfte nur in geringer Stärke zum Einsatz, wobei sie in diesem Fall vornehmlich der Unterstützung des Luftkrieges mittels Aufklärung und Zielbeleuchtung sowie sonstigen Spezial- oder Kommandooperationen dienen. Mittlerweile ist es den US-Streitkräften gelungen, das Zusammenwirken von Special Forces und Air Force bei der Zielaufklärung, -markierung und -bekämpfung in bis dato nicht für möglich gehaltener Weise zu verbessern.

Da für die konkrete Besetzung gegnerischen Territoriums Landstreitkräfte erforderlich sind, deren Einsatz indessen stets mit erheblichen Verlustrisiken verbunden ist, streben die USA an, daß die Verbündeten oder jeweiligen Koalitionspartner ihre Truppen für den Einsatz am Boden bereitstellen. Generell gilt für den Einsatz bodengebundener Streitkräfte unter dem Aspekt der Ökonomie des Krieges und im Kontext massenmedialer Omnipräsenz, daß jene tunlichst nicht in Massenschlächtereien traditioneller Art, sondern vorzugsweise erst nach der gegnerischen Kapitulation zum Zwecke der Stabilisierung und Absicherung einer Waffenstillstandsvereinbarung oder Friedensregelung sowie zur sogenannten „Kriegsfolgenbereinigung“ zum Einsatz kommen sollen. Schon die Kriege in Kroatien und Bosnien 1995 sowie im Kosovo 1999 demonstrierten, wie effektiv dieses neue Paradigma der Kriegführung in die Tat umgesetzt wurde und der Krieg in Afghanistan unterstreicht dies erneut. Einen weiteren Beleg liefern die bekannt gewordenen Überlegungen des Pentagons, für den ins Auge gefaßten Krieg gegen den Irak die schiitische Opposition im Süden und die kurdische im Norden für den koordinierten Kampf mit den US-Luftstreitkräften auszubilden und auszurüsten.

In diesem Kontext ist auch ein Blick auf die derzeit gültige Luftkriegsdoktrin der U.S. Air Force höchst aufschlußreich. Entwickelt worden war diese bereits im Frühjahr 1988 von dem damaligen Colonel John A. Warden III, dessen Überlegungen in der Folge den strategischen Luftkrieg gegen den Irak 1991 sowie gegen Jugoslawien 1999 entscheidend prägen sollten. Den Kern des strategischen Ansatzes Wardens stellt sein sogenanntes 'Fünf-Ringe-Modell' dar.

Zielprioritäten für den strategischen Luftkrieg (beginnend mit der höchsten Priorität)
  • I. Leadership (politische und militärische Führungsspitze)
  • II. Organic Essentials (Schlüssel-Industrie)
  • III. Infrastructure (Transport-Infrastruktur)
  • IV. Population (Zivilbevölkerung)
  • V. Fielded Military (Militär)
Quelle: General A. Warden III: "The Enemy as a System" und "Air Theory for the Twentyfirst Century", Air University, Maxwell AFB, Alabama 1998

Ausgehend von einer systemtheoretischen Betrachtungsweise beschreibt Warden einen potentiellen Gegner als ein System konzentrisch angeordneter Ringe, deren strategische Relevanz von innen nach außen abnimmt. Angewendet auf einen feindlichen Staat definiert Warden dieses System der gestaffelten Ringe folgendermaßen: Im Zentrum befindet sich die politische und militärische Führungsspitze. Darum herum gruppieren sich die Schlüssel-Industrie, die Transport-Infrastruktur, die Zivilbevölkerung und ganz außen das Militär.

Aus der Wichtigkeit dieser Elemente im Hinblick auf die Überlebensfähigkeit des Staates sowie aus ihrer Verwundbarkeit gegenüber Luftangriffen leiten sich direkt die Zielprioritäten für den strategischen Luftkrieg ab.

Hervorzuheben ist, daß diese Luftkriegsdoktrin ganz bewußt auf die Zerstörung der Lebensgrundlagen eines Staates abzielt und insbesondere auch die Zivilbevölkerung selbst zum expliziten Ziel deklariert.

Der Luftkrieg gegen Afghanistan illustrierte dies wiederum in exemplarischer Weise. Während der Weltöffentlichkeit suggeriert wurde, daß die U.S. Air Force selektiv und präzise die Infrastruktur von Osama bin Ladins Al-Quaida sowie das rudimentäre Militärpotential der Taliban zertrümmerte, meldete der amerikanische Fernsehsender NBC unter Berufung auf einen hochrangigen Offizier der amerikanischen Streitkräfte, daß die amerikanische Luftwaffe die entsprechend völkerrechtlicher Regularien deutlich gekennzeichneten Lager des IKRK in Afghanistan vorsätzlich bombardiert hatte, um die dort deponierten Lebensmittel und Hilfsgüter nicht in die Hände der Taliban fallen zu lassen. Indes verbietet es Artikel 54 des Zweiten Zusatzprotokolls zur Genfer Konvention, „für die Zivilbevölkerung lebensnotwendige Objekte“ anzugreifen oder zu zerstören. Vorsätzliche Angriffe auf humanitäre Einrichtungen fallen demnach unter die Kategorie der Kriegsverbrechen. Insgesamt sollen mehr als achtzig Prozent der IKRK-Strukturen in Afghanistan zerstört worden sein. Symbolhaften Gehalt besaß schon die Zerstörung eines Büros der Vereinten Nationen in Kabul zu Beginn der Bombardierungen, wobei vier lokale Mitarbeiter, deren Aufgabe darin bestand, im Rahmen eines humanitären UNO-Projektes Minen zu räumen, getötet worden waren. Darüber hinaus ist bis heute ungeklärt, ob die Bombardierung des Kabuler Büros des arabischen Fernsehsenders »Al Djasirah«, der mehrfach Interviews mit Osama bin Ladin ausgestrahlt hatte, die ihm zuvor auf Videobändern zugespielt worden waren, durch die U.S. Air Force Absicht oder Zufall war.

Andererseits rückt das gegnerische Militär auf der Liste der Zielprioritäten ganz nach hinten. Die von Warden gegebene Begründung hierfür ist schlagend: „Contrary to Clausewitz, destruction of the enemy military is not the essence of war; the essence of war is convincing the enemy to accept our position, and fighting his military forces is at best a means to an end and at worst a total waste of time and energy.“ In der Realität des Krieges gegen Afghanistan resultierte aus einer solchen Doktrin, daß ein ohnehin unbewohnbares Land noch unbewohnbarer gemacht wurde.

(Der Autor vertritt in diesem Beitrag seine persönlichen Auffassungen)


"Das ganze hat überhaupt nichts mit Öl zu tun."

Die irakische Ölindustrie verstaatlicht und diesen Schritt auch noch propagandistisch ausgeschlachtet: das geht zu weit - Betrachtungen von Andreas Neumann vom 12.3.2003

In einem ungewöhnlichen Artikel von Christiane Oelrich im Online-Angebot der Heilbronner Stimme lesen wir am 1.2.2003: "'Ein Regime-Wechsel in Bagdad würde die Karten neu mischen und amerikanischen und britischen Ölfirmen erstmals nach 30 Jahren einen guten Start für den direkten Zugriff auf das irakische Öl geben', sagt Michael Renner vom Worldwatch-Umweltinstitut. 'Die US-Regierung wird versuchen, einen Krieg zu führen, der nichts kostet, indem sie das irakische Öl plündern und den US-Firmen dann Verträge zuschustern', sagte Politikprofessor Ian Lustick von der Universität Pennsylvania kürzlich auf einer Podiumsdiskussion in Washington. 'Unsinn', kontert US-Verteidigungsminister Donald Rumsfeld. 'Das ganze hat überhaupt nichts mit Öl zu tun.' Der Irak hat mit 112 Milliarden Barrel die höchsten Ölreserven nach Saudi-Arabien..."

Und dann kommt sie auf die Verstaatlichung der irakischen Ölindustrie und ihre Folgen für diejenigen Kräfte, die heute den Krieg gegen den Irak (für Demokratie und Menschenrechte) planen, zu sprechen:

"Bis zur Verstaatlichung der irakischen Ölindustrie 1972 saßen überwiegend amerikanische und britische Konzerne im Irak am Hebel. Nach dem irakisch-iranischen Krieg und Bagdads Überfall auf Kuwait war der Ofen für die amerikanischen und britischen Konzerne ganz aus... Auch wenn die UN-Sanktionen internationalen Ölkonzernen Geschäfte im Irak praktisch unmöglich machen, sitzen viele bereits in den Startlöchern für 'die Zeit nach Saddam'. An der großen Öl- und Gasmesse in Bagdad im September 1999 nahmen mehr als 50 Firmen teil. Alle außer Amerikanern und Briten waren vertreten. Die französische TotalFinaElf hat eine Vereinbarung zur Entwicklung des Ölfeldes Majnoon rund 50 Kilometer nördlich von Basra in der Tasche, die größte russische Ölfirma Lukoil sicherte sich schon 1997 einen Vertrag zur Modernisierung des West Kurna-Feldes im Umfang von 3,5 Milliarden Dollar. Chinas National Petroleum Corporation bekam den Zuschlag für das nördliche Rumailah-Feld... Die drei größten Ölkonzerne, die amerikanische Exxon-Mobil, die anglo-niederländische Royal Dutch Shell, die britische BP und der US-Konzern Chevron-Texaco, sind praktisch nicht dabei. Das könnte sich nach einem Krieg und amerikanischer Besatzung im Irak schnell ändern..."

Das die herrschende Situation den US-amerikanischen und britischen Konzernen mißfällt, läßt sich begreifen. Die Verstaatlichung der Ölindustrie - und das im eigenen Land - ist eine Provokation, die nicht länger hingenommen werden kann. Also muß der Provokateur jetzt, nachdem man ihn eine Weile für seine Zwecke benutzt hatte, in einer Weise dargestellt werden, die seine Beseitigung rechtfertigt:

"Seit 1979 ist Saddam Hussein unumschränkter Alleinherrscher des Iraks. Sein Regime gründet sich auf den Krieg gegen das eigene Volk, auf Gewalt, Folter und einen lückenlosen Überwachungsapparat... Mit seinen Provokationen gegenüber dem Westen und der propagandistisch äußerst geschickt ausgeschlachteten Verstaatlichung der irakischen Ölindustrie stilisierte er sich erfolgreich zum Helden der arabischen Welt. Mit dem Slogan 'Arabisches Öl den Arabern' erhob er sich selbst zum Mythos: zu einer Art wiedergeborenem Saladin, der einst die Kreuzritter bezwang." So wird mit dem Ton der Entrüstung in einem Beitrag mit dem Titel "Das Psychogramm des Diktators am Tigris" im ARD-Kulturweltspiegel über das Buch "Saddam Hussein - Porträt eines Diktators - Die Biographie" am 15.12.2002 formuliert. Das Buch zeichne "das beklemmende Porträt eines zwischen Hitler, Stalin und Pol Pot oszillierenden Diktators". "Präsident George W. Bush hat die CIA ermächtigt, Saddam Hussein umzubringen. Aber sie schaffen es nicht, denn er hat ungeheuer effiziente, alles umfassende Sicherheitskräfte, die ihn schützen", heißt es in dem Buch von Con Coughlin, Chefredakteur des "Sunday Telegraph". Die Schlußfolgerung heißt Krieg.

Die 'Passauer Neue Presse' weiß am 9.2.2003 in einem Buchtipp noch mehr: "Erzogen von einem gewalttätigen Onkel, der ein glühender Verehrer Hitlers war, wurde Saddam zum Folterspezialisten, der vor keiner Grausamkeit zurückschreckte und mit Vorliebe brennende Zigaretten in den Augäpfeln seiner Gegner ausdrückte. Ein schiitischer Dissident berichtet, wie Saddam einen Inhaftierten umbrachte: 'Er kam in die Zelle, packte Dukhail und warf ihn in ein Säurebad.'"

Würde Saddam Hussein den britischen und US-amerikanischen Konzernen bei der Nutzung der Ölquellen freie Hand lassen, würde all das, was ihm jetzt vorgeworfen wird, keine Rolle spielen, würde sein 'hartes' Vorgehen gegen 'Chaoten', 'Störenfriede' und 'Terroristen' gelobt, wären die Vergleiche mit Hitler und Stalin nicht erforderlich und es müßte auch nichts an Horrorgeschichten dazuerfunden werden. Viel schwerwiegender als jedes Vergehen ist es, sich den Machtinteressen der Konzerne in den Weg zu stellen, ihnen den freien Zugriff auf die Rohstoffe eines souveränen Staates zu verwehren. Trotzdem: Es geht um Demokratie und Menschenrechte. Mit Öl hat das ganze überhaupt nichts zu tun.