Bonn, 15./16.10.2003 - Prozeß der Nato-Kriegsopfer von Varvarin im ehem. Jugoslawien gegen die Bundesrepublik DeutschlandBilder

Vor Gericht am 15.10.03

Aus einem Bericht des Projektrats vom 18.10.2003

Da das Gericht keinen Kläger geladen hatte, hatte der Projektrat seinerseits 3 der Kläger – Zoran Milenkovic, Gordana Stankovic und Jasmina Zivkovic – nach Bonn eingeladen. Diese 3 Varvariner nahmen an der Verhandlung teil.

Nach Erscheinen und Vorstellung des Gerichtes protokollierte der Vorsitzende Richter – Herr Sonnenberger – die vor Gericht erschienenen Personen in Vertretung der Streitparteien. Für die Klägerseite waren das die 3 o.g. Varvariner und mit ihnen die Anwälte Frau Gül Pinar und Dr. Heinz-Jürgen Schneider für 34 Kläger. Für eine Klägerin war das RA Dost.

Auf Beklagtenseite war das Prof. Dr. Redeker mit 2 seiner Kanzleianwälte und ein Beamter des Verteidigungsministeriums.

(Hier sei eingefügt, dass später im Zuge der Verhandlungsführung der Vorsitzende Richter nochmals zu dem Thema, welcher Anwalt der Kläger ist durch welche Kläger mandatiert, zurückkam. Auf explizierte Nachfrage gab RA Dost kund, dass er nur Frau Ristic vertrete. Das ist daher bemerkenswert, da RA Dost vorher öffentlich und in einem Schreiben vom Januar 2003 an das Bonner Gericht die wahrheitswidrige Behauptung aufstellte, er alleine würde alle Kläger vertreten und die Mandate für die Hamburger Kanzlei seien nichtig, da angeblich illegal erworben.)

Sodann befragte der Vorsitzende Richter die Parteien, ob sie bereit seien, eine gütliche, außergerichtliche Einigung zu treffen.

Die Beklagte lehnte mit Verwies auf die grundsätzliche Bedeutung der Streitsache dieses ab. Unsere Anwälte lehnten mangels eines Angebots und auch grundsätzlich ebenfalls ab.

Der Vorsitzende Richter stellte Scheitern des Gütetermins fest und eröffnete die Verhandlung in der Sache. Er stellte die schriftlich vorgetragenen Positionen beider Seiten zusammengefasst dar.

Zur Tat selbst erklärte er mehrmals, dass die Tatortfotos und die Beschreibung der Kläger eine Tat von außerordentlicher Brutalität und Grausamkeit zeigen würden. Das Gericht stellte fest, dass es keinen Zweifel an der von der Klägerseite vorgetragenen Beschreibung der Tat hat. Diese könne so als festgestellt gelten. Der Richter bezweifelte, ob die Varvariner Brücke ein zugelassenes militärisches Ziel von strategischer Bedeutung (NATO-Darstellung) hätte gewesen sein können. Er habe auf den Fotos nur ein kleines "Brücklein" gesehen. Des weiteren führte der Richter aus, dass selbstverständlich die Kläger ein deutsches Gericht anrufen können, dass das Bonner Landgericht das zuständige Gericht für die Klage sei und dass es die Sache verhandeln werde. Klage sei fristgerecht erhoben. Fragen stellte der Richter an die Anwälte der Kläger, was diese denn nun eigentlich fordern. In der Klage (noch von RA Dost geschrieben) werde von "Schadenersatz in Geld" gesprochen. Das sei aber keine juristische Kategorie. In Frage kämen "Ausgleich materiellen Schadens" und/oder "Schmerzensgeld". Unsere Anwälte bekundeten, dass Schmerzensgeld die Forderung sei.

(Hier sei angemerkt, dass in der Klageschrift von RA Dost die Forderung "Ausgleich materiellen Schadens" für keinen Kläger erhoben wurde. Der Unterzeichner erinnert sich, vor unserer Trennung von RA Dost, darauf aufmerksam gemacht zu haben. RA Dost sagte damals, dass würde nachgereicht. Was bis heute unterblieb. Das Hamburger Anwaltsteam konnte hier nichts mehr reparieren. Wir beauftragten sie erst im Spätsommer 2002 nach Ablauf der 3-jährigen Verjährungsfrist, diese Sache fortzuführen. Nach Verjährungseintritt die Forderung "materieller Schaden" zu erheben, wäre eine Klageänderung. Jedoch Klageänderung nach Verjährung hätte zur Verjährung der ganzen Klage geführt.)

Nach dieser Klärung wandte sich der Richter der Höhe der Anträge Schmerzensgeld zu. Er erörterte, welche Schmerzensgeldbeträge von deutschen Gerichten üblicherweise zugesprochen werden. Er ließ erkennen, dass die Rücknahme der Dost-Anträge und die Neustellung auf niedrigerem Niveau und in differenzierter Höhe für 34 Kläger, die RA Gül Pinar und Team vertritt, sich hier besser einordnet. Auf Befragen blieb RA Dost jedoch für seine Mandantin bei dem ursprünglichen Antrag.

Der Richter verwies auf die Außergewöhnlichkeit der Klage für eine Zivilkammer des Landgerichts.

Gewöhnlich beschäftige sich eine solche Kammer nicht mit Völkerrecht. Das sei Neuland, das hier betreten werde. Es gäbe keinen Präzedenzfall. Die am Gericht vorhandene Fachliteratur gäbe hierfür wenig her. Es würden umfangreiche Studien durchgeführt werden müssen. Er versprach, dass das Gericht sich der schweren Aufgabe sorgfältig stellen werde.

Dem Kläger Zoran Milenkovic wurde Gelegenheit gegeben, im Namen der Kläger eine Erklärung abzugeben. Er führte aus, wie sehr die von der NATO-Aggression betroffenen Menschen auf Gerechtigkeit hoffen. Die Kläger wollen erfahren, warum ihnen das angetan wurde. Die Geldforderung sei nicht der Kern, wenngleich viele Kläger in Folge des Verbrechens in Varvarin in eine solche Lage gerieten, dass sie das Geld für ihre Fortexistenz dringend gebrauchen könnten. Er führte auch aus, dass diese wichtige Klage nur Dank des Projektrates – namentlich wurde der Unterzeichner genannt – jetzt hier verhandelt werde, wofür er sehr danke. Er bat das Gericht um ein gerechtes Urteil.

Der mehrfach von Zoran benutze Begriff "NATO-Aggression" führte zu einer empörten Zurückweisung durch die Vertreter der Beklagten. Sie meinten, es habe sich vielmehr um eine gerechtfertigte, humanitäre Intervention gehandelt. Der Richter unterbrach die weitere Diskussion, da hier in diesem Verfahren darüber nicht zu befinden sei. Es gehe allein um die Tat in Varvarin und deren Rechtsfolgen.

Der Richter versicherte den Klägern, alles in den Möglichkeiten dieses Gerichtes tun zu wollen, um ein gerechtes Urteil zu finden. In Anspielung auf Zorans mit 15 Jahren getöteten Tochter merkte er an, dass er auch eine Tochter in diesem Alter habe.

Der Vorsitzende Richter führte aus, dass das Gericht Revision gegen sein Urteil wohl zulassen werde, wegen der grundsätzlichen Bedeutung. Er erwarte, dass diese Klage noch höchste deutsche Gerichte oder vielleicht auch solche auf europäischer Ebene beschäftigen werde.

An die Anwälte der Parteien gerichtet sagte er, dass nun mit dem Schließen dieser Verhandlung Tatsachen nicht mehr vorgetragen werden können. Frei stehe es den Parteien jedoch, neue Schriftsätze zur rechtlichen Bewertung der Tatsachen vorzulegen.

Zur Vollständigkeit sei angemerkt, dass RA Dost die Gelegenheit nutzte, ein längeres Statement abzugeben. Dem Inhalt können wir durchaus zustimmen, nur meinen wir, dass anklagende und vielleicht etwas polemische Komponenten nicht das Zweckmäßigste in einer Zivilsache sind, die man erst noch gewinnen muss.

Das Gericht legte den 10.12.2003, 11.30 Uhr als Verkündungstermin fest.

Wir merken an, dass dieses das Sprechen eines Urteils bedeuten kann, aber nicht zwingend sein muss. Vielleicht käme auch Verkündung eines Beschlusses in Betracht, etwa zum Eintritt in ein Beweisverfahren oder zum Ruhen des Verfahrens mit Vorlage beim Bundesverfassungsgericht, falls die Richter verfassungsrechtliche Fragen mit Klärungsbedarf tangiert sehen sollten.

Zum Verkündungstermin wird der Projektrat wiederum eine Delegation der Varvariner Kläger nach Deutschland einladen.

Unsere vorläufige Bewertung des ersten Verhandlungstages

Das Gericht hat sich fair und sachlich gezeigt.

Mehrere Verteidigungslinien der deutschen Regierung scheinen zunächst obsolet. Das sind:
  • Bestreitung des Tatherganges mit Nichtwissen,
  • Fehlende Passivlegitimation, behauptete Immunität von Staaten gegen Individualklagen,
  • Keine Zuständigkeit deutscher Gerichte, da Tatort nicht in Deutschland,
  • Allenfalls hätte nur gegen die NATO als Institution geklagt werden können,
  • Zivilklagen dürften nicht zugelassen werden, da sie das Bemühen der vormals kriegführenden Staaten stören, nach dem Krieg wieder zu einem normalen, geregelten Verhältnis zurückzukehren,
  • Zivilklagen dürften nicht zugelassen werden, da sonst Dopplung der Ansprüche aus diesen neben denen aus Reparationen entstünde.
  • Diese Klage dürfe nicht zugelassen werden, weil sie zu nicht akzeptabler Ungleichstellung der Opfer führen würde, da andere potenzielle Kläger mangels fehlender Mittel sich eine solche Klage nicht leisten könnten,
  • Zulässigkeit dieser Klage könnte zu einer Überflutung der Gerichte – mit deren Lahmlegung – führen,
  • Letztlich könne die Tat von Varvarin auch als Exzess gewertet werden, wofür dann nur der/die unmittelbare(n) Täter verantwortlich wären.
Wir betonen, dass der bisherige Stand der Verhandlung keinerlei Schluss über das endliche Ergebnis der ersten Instanz zulässt. Festzustellen ist jedoch, dass die Position der Kläger bisher in keiner Weise beeinträchtigt wurde.

Im Auftrag des Projektrates: Harald Kampffmeyer


Bedauern oder mehr?

Gericht läßt Klage wegen deutscher Beteiligung am NATO-Krieg gegen Jugoslawien zu - Artikel von Jürgen Elsässer in 'junge Welt' vom 16.10.2003

Ein übervoller Gerichtsaal, ein riesiges Medienaufgebot, Rosen für die Serben, die Anwälte der Bundesregierung finster und wortkarg – dies ist ein Prozeß, der schon jetzt Geschichte macht. Zum ersten Mal wird in Deutschland nicht wegen der Verbrechen des Naziregimes, sondern denen der Bundesrepublik verhandelt. Es geht um den ersten Krieg der Deutschen nach 1945, den Angriff der NATO-Verbündeten auf Jugoslawien im Jahre 1999.

Im NATO-Bombenhagel starben im Verlaufe des 78tägigen Krieges insgesamt 2000 jugoslawische Zivilisten, darunter etwa 700 Kinder, des weiteren fielen etwa 1000 Militärangehörige. Stellvertretend für alle Hinterbliebenen klagen jetzt 34 Bewohner der mittelserbischen Ortschaft Varvarin auf Schadensersatz. Der Fall ist besonders eklatant: Am 30. Mai 1999 flogen NATO-Bomber einen Angriff auf die Brücke des Städtchens. »Hätten die Piloten nur gewollt, hätten sie sehen müssen, daß unmittelbar neben der Brücke ein großes Kirchenfest mit mehreren tausend Besuchern stattfand«, legte Bürgermeister Zoran Milenkovic dem Richter dar. Seine Tochter Sanja war unter den Toten des ersten Angriffes. Als dann Hilfswillige herbeiströmten, um die Verletzten zu bergen, kehrte der NATO-Bomber zurück und feuerte weitere Raketen ab. Dabei starben noch mehr Menschen. Insgesamt verloren an jenem Tag zehn Varvariner Bürger ihr Leben, weitere 17 wurden schwer verletzt.

»Ich kann mich nicht damit abfinden, daß meine Tochter ein Kollateralschaden sein soll«, rief Milenkovic aus. An ein Versehen will er nicht glauben, vielmehr habe die NATO an jenem Tag absichtlich den serbischen Blutzoll in die Höhe treiben wollen. »Zu dieser Zeit hatten die heimlichen Verhandlungen mit Milosevic schon begonnen. Es ging der NATO darum, den Druck auf Milosevic zu erhöhen, in einen Friedensschluß zu ihren Bedingungen einzuwilligen. Dafür brauchte man entsprechende Bilder.«

Die Anwälte der Bundesregierung sprachen den Hinterbliebenen auch gestern wieder ihr »ausdrückliches Bedauern« aus, betonten aber, daß es sich nicht um eine »NATO-Aggression« gehandelt habe und Soldaten der Bundeswehr an jenem 30. Mai nicht tatbeteiligt waren. »Dieses Mitleidsgejammer halte ich für unehrlich«, entgegnete Anwalt Ulrich Dost. »Die Bundesregierung hat im Verlaufe des Krieges wirklich alles unterlassen, um zu erreichen, daß zivile Opfer vermieden werden können.« Folge man etwa den Aufzeichnungen des damaligen Verteidigungsministers Rudolf Scharping (SPD) in seinem »Kriegstagebuch«, so habe die Zielplanung immer auf der Tagesordnung des NATO-Rates gestanden. »Die Bundesregierung hatte also jeden Tag die Möglichkeit, im NATO-Rat ihr Veto gegen bestimmte Ziele einzulegen. Sie hat es nie gemacht.« Deswegen erfülle die Bundesregierung »eindeutig die Voraussetzung der Mittäterschaft«.

Richter Heinz Sonnenberg machte die Bedeutung des »Musterprozesses« deutlich. Es gehe darum, ob Individualkläger ihr Recht gegen einen Staat durchsetzen könnten. Die bisherige Rechtsprechung in der Bundesrepublik habe dies verneint, zuletzt im Sommer dieses Jahres im sogenannten Distomo-Prozeß. Hinterbliebene eines SS-Massakers in dieser griechischen Ortschaft waren mit ihren Ansprüchen gegenüber Deutschland abgewiesen worden. Sie wurden, wie andere NS-Opfergruppen, an ihren eigenen Staat verwiesen, der zunächst ein Reparationsabkommen mit der BRD aushandeln müsse und sie dann mit den zwischenstaatlichen Ausgleichszahlungen entschädigen könne. Doch der Richter betonte, daß der Bundesgerichtshof »ausdrücklich offen gelassen« habe, ob diese Rechtsprechung über Verbrechen des Zweiten Weltkrieges auch für die heutige Zeit gilt. Wie stark das Völkerrecht im Umbruch ist, zeigt die Einrichtung des Internationalen Strafgerichtshofes in Den Haag (ICC), vor dem Staaten auch wegen individueller Menschenrechtsverletzungen beklagt werden können. Die Bundesregierung gehört, im Unterschied zur US-Regierung, zu den energischen Förderern des ICC. Nun wird sich zeigen, ob sie dessen Prinzipien auch für ihre eigene Justiz anzuwenden bereit ist. »Wir sind optimistisch, daß der Richter zu unseren Gunsten entscheidet«, sagte Anwältin Gül Pinar. »Immerhin hat er unsere Tatsachenfeststellung und die Zuständigkeit eines deutschen Gerichtes anerkannt und die Klage nicht aus formalen Gründen abgewiesen.«

Das Urteil wird bereits beim nächsten Verhandlungstermin am 10. Dezember verkündet werden.

Quelle: www.jungewelt.de/2003/10-16/001.php


In Bonn geht es um Rechtsfolgen eines Überfalls

Mit der Verhandlung über die Opfer von Varvarin können sich deutsche Richter in Neuland vorwagen - Artikel von René Heilig in 'Neues Deutschland' vom 16.10.2003

In Bonn wird derzeit ein für deutsche Gerichte ungewöhnlicher Fall behandelt. Es geht um die Folgen des Krieges gegen Jugoslawien. Opfer klagen gegen die Bundesrepublik.

Rückblende: Es war der 30. Mai 1999, ein Feiertag. Auch im 4000-Einwohner-Städtchen Varvarin wurde das orthodoxe Dreifaltigkeitsfest gefeiert. Auf dem Markt herrschte lebendiges Treiben, es wurde gelacht, getanzt, gefeilscht und gehandelt. Bis zu jenem Moment, an dem zwei F16-Jagdbomber auftauchten. Die NATO führte Krieg gegen Jugoslawien, angeblich um eine humanitäre Katastrophe in der von Albanern dominierten Provinz Kosovo zu verhindern.

Kurz vor 13 Uhr flogen die NATO-Jets zunächst in großer Höhe über die Stadt. Dort verspürte man keine Angst, es gab kein jugoslawisches Militär im weiten Umkreis. Der Nachschub für die in Kosovo stationierten Regierungstruppen lief über die gut 30 Kilometer entfernte Autobahn. Doch geschah etwas, was in der Klageschrift mit grausamer Deutlichkeit beschrieben ist. Zwei punktgenau gelenkte Bomben zerstörten die kleine Brücke über die Morava. Drei Menschen, darunter ein 15-jähriges Mädchen, kamen um, fünf Personen werden schwer verletzt, ein Auto mit zwei Insassen stürzte in die Tiefe. Voller Entsetzen rannten Einwohner zur Brücke, wollten Menschen retten. In diesem Moment griffen die Bomber ein zweites Mal an. Die Retter wurden selbst zum Ziel. Sieben weitere Zivilisten starben, zahlreiche andere wurden verletzt – Opfer eines Kriegsverbrechens, eines völkerrechtswidrigen Angriffskrieges, den die NATO ohne Mandat der UNO begonnen hatte.

Angriffskriege sowie deren Vorbereitung sind nach dem deutschen Grundgesetzartikel 26 verboten und nach Strafrechtsparagraf 80 zu beurteilen. Derartige Argumentationen wurden jedoch in den vergangenen Jahren höchstrichterlich »abgeschmettert«. Doch in Bonn eröffnete man gestern – auch wenn der Rechtsanwalt Ulrich Dost, der eine Varvariner Frau vertritt, in der Verhandlung bisweilen mehr agitierte als argumentierte – kein neues »Tribunal«. Es wird Zivilrecht verhandelt. Die Opfer oder deren Hinterbliebene fordern bescheidene Schmerzensgelder zwischen 5000 und 60000 Euro.

»Es war ein sonniger Tag. Die Piloten hätten sehen können, dass in unserer Stadt nur fröhlich feiernde Leute waren.« Bürgermeister Zoran Milenkovic, der bei dem Angriff seine 15-jährige Tochter verlor, bat darum, dem Gericht selbst zu erzählen, warum er, seine Frau und 33 Nachbarn gegen Deutschland klagen. Nein, es gehe nicht vor allem um das Geld – obwohl auch das manchem, der bei dem Angriff verletzt wurde, helfen könnte, sein karges Leben zu fristen. Es gehe darum, dass endlich von einem Gericht klargestellt wird, dass man nicht einfach ein ganzes Volk bestrafen darf, wenn man eigene politische Interessen verfolgt.

Milenkovic, der mit weiteren Klägern nach Bonn gekommen war, bemühte sich, seine Gefühle zu unterdrücken, als er endete: »Hohes Gericht, wir erwarten ein gerechtes Urteil!« Darum wolle man sich bemühen, versprach der Vorsitzende Richter, doch trotz des tiefen Mitgefühls, das ihn ergreife, wenn er »die schrecklichen Bilder« sehe, gelte es, standsicher »juristisches Neuland« zu betreten. Er bat um Verständnis, dass dies für eine kleine Zivilkammer ein großes Problem ist. Allein das Beschaffen der benötigten Fachliteratur sei nicht so einfach, geschweige das umfangreiche Studium.

Bislang gab es nicht einen Fall, »bei dem Kriegsfolgen durch einen individuellen Ausgleich geregelt wurden«. Üblich war bisher, so es überhaupt einen Ausgleich gab, dass der von Staat zu Staat geregelt wurde. Menschen, die Ansprüche haben, müssen sich also mit der eigenen Regierung ins Benehmen setzen. Doch die jüngste Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes lässt offen, ob das, was beispielsweise für Forderungen aus dem Zweiten Weltkrieg galt, weiter so gültig sein muss. Das Völkerrecht habe sich seit damals enorm weiterentwickelt.

Die 1. Zivilkammer des Bonner Landgerichts hat allerdings nicht die Täterschaft zu klären. Es waren keine deutschen Piloten, die den Mord begangen haben. Doch das, so argumentieren die Vertreter der Kläger, sei nicht entscheidend. Die Bundesrepublik Deutschland hat dem Angriff auf einen souveränen Staat zugestimmt. Hätte die rot-grüne Regierung Nein gesagt, hätte die NATO keinen Krieg führen können. Zudem seien deutsche Amtsträger an der Auswahl und Bestätigung der jeweiligen Bomberziele beteiligt gewesen.

Das unbewaffnete Varvarin stand als strategisches Ziel in den NATO-Dokumenten. Jede NATO-Nation hatte das Recht, einzelne Ziele von der Planungsliste der Militärs zu streichen. Doch das hätten die deutschen NATO-Experten grundsätzlich unterlassen. Damit, so argumentieren die Kläger, hafte die Bundesrepublik Deutschland quasi gesamtschuldnerisch. Deshalb sei es auch gleichgültig, ob der Angriff von deutschen, amerikanischen oder englischen Offizieren befohlen worden sei und welcher Nationalität die Piloten angehören, die harmlose serbische Menschen ermordet haben.

Die Bundesregierung hat schon vor Prozessauftakt jede Verantwortung zurückgewiesen. In der Klageerwiderung bedauerten die Anwälte von Verteidigungsminister Peter Struck die zivilen Opfer, um dann schnoddrig zu erwähnen, dass es in dem Krieg »nur in 0,4 bis maximal 0,9 Prozent der Einsatzfälle zu zivilen Opfern« gekommen sei.

Neben dem wiederaufgeflammten Medieninteresse haben die Kläger auch einen kleinen juristischen Erfolg verbucht. Das Gericht hat sich – im Gegensatz zur Meinung einiger Experten – für zuständig erklärt.

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