Köln, 19.10.2009 - Vorstellung des Buches 'Gaza - Mensch bleiben' von Vittorio Arrigoni (Zambon-Verlag)Bilder

"GAZA - Mensch bleiben" - Augenzeugenbericht von Vittorio Arrigoni (Dezember 2008 bis Juni 2009)

Rezension des Augenzeugenberichts aus "Infobrief - Gegen Konzernherrschaft und neolieberale Politik", Ausgabe 27 (Februar 2010)

Vittorio Arrigoni, italienischer Mitarbeiter des ISM (international solidarity movement), beginnt seine Betrachtungen um die israelische Militäraktion in Gaza 2008/2009 mit dem Blick aufs Meer: „Der Panoramablick hat mich oft aufgerichtet, wenn ich völlig erschöpft war von der auferlegten Misere des Lebens im Belagerungszustand. Bis heute morgen. Als bei mir vor dem Fenster die Hölle losbrach.“ Dieser Morgen muß der 27. Dezember 2008 gewesen sein, einen Tag nach dem christlichen Weihnachtsfest, zwischen den Feiertagen - wie man so sagt, wenige Tage vor dem „Guten Rutsch“ ins Jahr 2009. Ein alter Brauch ist es, in die Zukunft schauen zu wollen: kleine Stücke formlos in Blei gegossen fordern zur Deutung auf, was es möglichst Gutes im Neuen Jahr gibt. Diesem Brauch gemäß bescherte die israelische Militärmacht dem dichtest besiedelten Landstrich der Welt ein Feuerwerk von Bomben und Phosphor, „Gegosses Blei“ genannt, das den palästinensischen Restlebensraum erschütterte und die Vorhersage Tod und Verderben ohne Flucht und Ausweg bescherte. Und Vittorio Arrigoni berichtete über die Verzweiflung zu überleben. Er arbeitete in einem palästinensischen Notdienst, der sich um die zahllosen zivilen Opfer der blindwütigen Attacken kümmerte. Er dokumentiere seine Augenzeugenberichte in der italienischen Tageszeitung „Il manifesto“ und in seinem Internetblog „Guerilla Radio“ und lieferte damit Innenansichten des Blutrausches, der von den meisten westlichen europäischen und insbesondere deutschen Medien und Fernsehbildschirmen nicht wahrgenommen werden sollte. „Während des Angriffes auf Gaza beschrieb eine Nachrichtensendung im Radio und im Fernsehen die Opfer in Gaza jede halbe Stunde als Terroristen und ihre massive Tötung durch Israel als einen Akt der Selbstverteidung,“ schreibt der israelische Historiker Ilan Pappe im Vorwort. Es seien „reine Lügen“ in „Neusprech“, die ihn an die dunkleren Tage der 1930er Jahre in Europa erinnerten.

Guernica in Gaza

„Wenn wir nicht morden, werden wir aufhören zu existieren,“ prognostiziert Arnon Sofer, Professor für Geographie an der Universät Haifa. Israel wird „morden müssen, morden und wieder morden.“ Das einzige Problem sei, wie „die jungen und die erwachsenen Männer, die sich mit den Morden auseinandersetzen müssen, es schaffen werden, nach Hause zu ihren eigenen Familien zurückzukehren, um dort wie normale Menschen weiter zu leben.“ In einem zweiten Vorwort äußert der Verleger, warum ihm diese Veröffentlichung so wichtig ist. Er wolle dazu beitragen, den „allgemeinen Sprachgebrauch zu entmystifizieren“, denn was Palästina zu ertragen hatte, war eine unverhältnismäßige „Folge einseitiger Angriffe“ mit der Auslöschung von 500 Dörfern seit 1948. Unverhältnismäßig sei auch die Zahl der Opfer im sogenannten Gaza-Krieg: 1.415 tote Palästinenser (überwiegend Zivilisten) gegenüber sechs getöteten israelischen Soldaten. Das Wort „Krieg“ sei im Sprachgebrauch hier völlig fehl am Platze: „War es nicht vielmehr ein Massaker? Ein Abschlachten? Ein infernalisches Gemetzel?“.

Poetische Sprache über das Grauen

Vittorio Arrigoni gelingt mit seinem sachlichen Augenzeugenbericht mehr als eine Zusammenstellung von Informationen über die Tage des Geschehens. Ein Glossar gibt Auskunft über Begriffe und geschichtliche und politische Fakten. Beigefügt sind 16 Fotos, z.B. eines von einem im Auftrag des Heeres produzierten T-Shirts, das eine schwangere Frau im Fadenkreuz darstellt - darunter der Spruch: „Ein Schuß, zwei Treffer“. Ein dichtes Werk, ein kleines Büchlein, das in seinem Titel und seinem Anliegen „Mensch bleiben“ den Wunsch nach Menschlichkeit transportiert, der auch die Israelis miteinbezieht und diese einlädt, wieder menschlich zu werden. (af)

GAZA Dezember 2008 - Juli 2009
Mensch bleiben - Restiamo Umani
Vittorio Arrigoni, Vorwort Ilan Pappe
Zambon Verlag 2009, 8 Euro
Paperback, 146 Seiten mit 16 Fotos