Köln, 14.9.2002, Bundesweiter Aktionstag 'Politikwechsel statt Wahlkampfshow!' - Abschlussveranstaltung auf der JahnwieseBilder

Weltwirtschaft und ökologische Konsequenzen

Birgit Mahnkopf

Weltwirtschaft und ökologische Konsequenzen - Die WTO - Einbahnstrasse der gesellschaftlichen Entwicklung

Wir sind hier versammelt, nicht weil wir die Globalisierung rückgängig machen wollen. Doch mit der Form von Globalisierung, die wir seit Beginn der 1990er Jahre erleben, wollen und müssen wir uns nicht abfinden. Das ist die "corporate globalisation", die weltweite Integration von Märkten einzig und allein im Interesse von transnationalen Unternehmen und Akteuren der Finanzmärkte. Diese Art der Globalisierung führt zu wachsender sozialer Ungleichheit, zu Finanz- und Wirtschaftskrisen, die ganze Gesellschaften in den Abgrund stürzen, zu politischer Destablisierung, zu einer Gefährdung der Demokratie und vor allem zu einer Verschärfung der ökologischen Krise.

Globalisierung ruft Widerstand hervor, wenn sie nicht mit der Befriedigung menschlicher Grundbedürfnisse, mit der Achtung von Menschen- und Arbeitnehmerrechten, mit einem Zuwachs an Lebenschancen und mit der Erhaltung der natürlichen Lebensgrundlagen einhergeht. Daher ist globaler Wettbewerb nur in dem Maße hinnehmbar, wie er zwei andere, höherwertige Ziele nicht gefährdet: globale Gerechtigkeit und ökologische Nachhaltigkeit. Diese Ziele lassen sich nur mit Hilfe weltweiter Institutionen verwirklichen, durch Regeln und Gesetze, die das Verhältnis von Wirtschaft und Gesellschaft in demokratischer Weise gestalten. Doch die existierenden Institutionen, die eine nahezu globale Reichweite haben, sind dazu aus unterschiedlichen Gründen nicht in der Lage: Die Organisationen des UN-Systems, das noch am ehesten demokratischen Ansprüchen genügt, sind vornehmlich mit Fragen nachhaltiger Entwicklung, mit politischen und sozialen Menschenrechten befasst. Die "harten" ökonomischen Fragen werden hingegen außerhalb des UN-Systems, in den Bretton Woods Institutionen (IWF, WB) und v. a. in der WTO behandelt, in Institutionen, die allesamt der neoliberalen Ideologie verpflichtet sind. Außerdem weisen diese Institutionen erhebliche interne Demokratiedefizite auf und zugleich beschneiden ihre Beschlüsse die Autonomie nationaler Regierungen. Insbesondere von der WTO gehen große Gefährdungen für die Demokratie aus. Nur wenige deutsche Wähler, die in einer Woche über eine neue Bundesregierung entscheiden, dürften wissen, dass die derzeit laufenden Verhandlungen über die Liberalisierung der Dienstleistungen im Rahmen des GATS viele Einrichtungen der öffentlichen Daseinsvorsorge zum Spielball kommerzieller Interessen machen. Auch die meisten Parlamentarier wissen vermutlich nicht, wie sehr ihre politischen Entscheidungen und selbst die künftiger Regierungen durch WTO-Verträge beschnitten werden.

Die WTO ist keine politisch neutrale Organisation von Experten, die über technische Details des Welthandels befinden. Sie ist das Sprachrohr transnationaler Unternehmen und deren einflussreicher Lobbyorganisationen. Die "global player" der Geschäftswelt wünschen weltweit gleiche Rahmenbedingungen für ihre Produktions- und Marketingaktivitäten; sie sind es, die die Hindernisse definieren, die dem grenzüberschreitenden Austausch von Gütern und Dienstleistungen entgegenstehen. Daher haben sie nicht nur an der Schaffung und Ausgestaltung der WTO maßgeblich mitgewirkt; sie nehmen auch direkt und indirekt Einfluss auf die laufenden WTO-Verhandlungen. Ihnen geht es darum, ohne gesetzliche Hindernisse ihren Geschäften nachgehen zu können und deshalb bestehen sie darauf, dass Menschenrechte, Arbeitnehmerrechte und Umweltstandards als nicht handelsrelevante Themen betrachtet werden.

Der WTO-Vertrag ist ohne öffentliche Anhörung und öffentliche Diskussion unterzeichnet worden - obwohl er über den Verfassungen der Mitgliedsländer steht; obwohl er nationales und EU-Recht außer Kraft setzt; obwohl er internationale Abkommen (wie die Erklärung der Menschenrechte oder die Agenda 21 der Rio-Konferenz) unterminiert und multilaterale Umweltabkommen verletzt. Das WTO-Recht wird mit den Verhandlungen zum GATS fortentwickelt, obwohl es schon heute derart komplex ist, dass noch nicht einmal die Verhandler selbst es in seiner ganzen Breite überschauen. Die WTO-Verträge enthalten Ungleichgewichte zu Ungunsten der Länder des Südens, obwohl sie gravierende Auswirkungen auf die Entwicklungsperspektiven gerade dieser Länder und hier insbesondere der Frauen haben.

Eine umfassende Reform der WTO und ihrer handlungsleitenden Prinzipien ist schwer vorstellbar, denn Änderungen am WTO-Vertrag sind nur einstimmig möglich. Selbst wenn es in einzelnen nationalen Parlamenten zu einer hundertprozentigen Mehrheit dafür käme, eine bereits erfolgte Deregulierungsmaßnahme rückgängig zu machen, wäre dies innerhalb des WTO-Systems nicht möglich. Denn danach ist nur eine Art der Entwicklung erlaubt: in Richtung auf eine noch weitergehende Deregulierung. Die WTO ist also eine Einbahnstrasse der gesellschaftlichen Entwicklung, an deren Ende weder globale Gerechtigkeit noch ökologische Nachhaltigkeit zu erwarten sind. Die neoliberalen Prinzipien der Liberalisierung, Deregulierung und Privatisierung stehen dabei über allen anderen möglichen Wert- und Entscheidungsgrundlagen. Die Menschen in den Industrieländern werden dies vor allem an den Folgen der derzeit laufenden Verhandlungen über die Liberalisierung der Dienstleistungen erfahren.

Das GATS ist ein anderer Begriff für den Rückzug des Staates aus der Gesellschaft; für die Entmündigung gesetzgebender Institutionen; für die Gefährdung der öffentlichen Versorgung mit Wasser, Bildung, Gesundheit oder audivisuellen Diensten und für die Deregulierung von Gesetzen, die zum Schutz von Arbeitnehmern erlassen wurden. Mit dem GATS verzichten wir auf Demokratie, soweit darunter zu verstehen ist, dass die Menschen innerhalb des Territoriums, auf dem sie leben, souverän über die zukünftige Entwicklung ihrer Gesellschaft entscheiden können. Das GATS schafft die Grundlagen für die Privatisierung und Kommerzialisierung von allem und jedem. Nach der Liberalisierung und Deregulierung von gesellschaftspolitisch bedeutsamer Basisdienstleistungen werden viele einkommensschwächere Gruppen der Gesellschaft Gemeingüter, die heute noch öffentlich bereit gestellt werden, nicht mehr in hinreichender Quantität und Qualität zur Verfügung haben. Wie die WTO an ganzes so ist das GATS einzig für den Ausschluss handelshemmender Wirkungen von Regulierungsmaßnahmen und nicht für deren soziale oder ökologische Folgen zuständig. Im Konflikt zwischen freiem Marktzugang für Unternehmen und ökologischen Belangen oder Menschen- und Arbeitnehmerrechten siegt immer der freie Handel. Daher trägt die WTO in ihrer derzeitigen Form nicht zu einer Lösung sondern eher zu einer Verschärfung der drängenden globalen Probleme bei. Reicht es also aus, wenn wir fordern, öffentliche Dienstleistungen und v.a. die Versorgung mit dem Lebensgut Wasser müssten durch gesetzliche Schritte aus dem GATS herausgenommen werden? Sollten wir das Augenmerk auf das gewaltige Demokratiedefizit der WTO lenken und die Beteiligung von Parlamentariern, Öffentlichkeit, Umweltexperten, Arbeitnehmerorganisationen und Vertretern der Zivilgesellschaft in den Entscheidungsprozessen fordern? Oder ist es nicht eher so, dass die Zielsetzungen der WTO grundsätzlich in Frage gestellt werden müssen?

Selbstverständlich brauchen eine globale Institution für die immer enger zusammenwachsende Weltwirtschaft. Doch sollte eine solche Organisation:
  • Teil des UN-System sein und wie alle anderen Organisationen der Völkergemeinschaft rechenschafts- und berichtspflichtig.
  • Sie müsste dafür sorgen, dass die Preise von Gütern und Dienstleistungen die tatsächlichen Kosten des internationalen Verkehrs wiedergeben, darin eingeschlossen all die Kosten, die bislang auf die Gesellschaften abgewälzt werden (z.B. in Form von krankmachenden Arbeitsbedingungen oder nicht existenzsichernden Löhnen) oder auf die Umwelt.
  • Dazu ist es nötig, dass die unveräußerlichen Menschenrechte, die international gültigen und national geltenden Arbeitnehmerrechte, Umweltstandards und Konsumentenrechte über die WTO-Prinzipien gestellt werden. Ökologische und soziale Standards für Exportgüter sollten deshalb verbindlich und sanktionsfähig gemacht werden. Transnational operierenden Unternehmen wäre eine Rechenschaftspflicht hinsichtlich der Arbeitsbedingungen und des Ressourcenverbrauchs in den von ihnen abhängigen Zuliefererbetrieben aufzuerlegen.
  • Es wäre Aufgabe einer Weltwirtschaftsorganisation neuen Typs, Wasser und alle Formen des Lebens von den Handelsregimen auszuschließen.
  • Sie müsste das Recht auf Selbstversorgung mit Nahrungsmitteln höher gewichten als die Liberalisierung des Agrarhandels.
  • Standards eines Landes, die dem Schutz von Umwelt, Arbeitnehmern oder Konsumenten dienen, dürften nicht in Frage gestellt werden, so lange sie für inländischen und ausländische Produzenten gleichermaßen gelten.
  • Die Konsumenten sollten ein Recht darauf haben, zu erfahren, wo die Waren herkommen, welche Stoffe sie enthalten, womit und wie sie produziert wurden.
  • Dass Vertreter der Zivilgesellschaft direkt in die Entscheidungsprozesse einer Weltwirtschaftsorganisation neuen Typs einzubinden wären, versteht sich fast von selbst.
Wir brauchen eine solche Organisation und zwar innerhalb des UN-Systems; eine Organisation, die für die Regulierung der internationalen Wirtschaftsbeziehungen zuständig ist - und nicht, wie die WTO, für die Deregulierung der globalen Ökonomie. Um aus dieser Sachgasse der gesellschaftlichen Entwicklung heraus zu kommen, braucht es vor allem den Druck sozialer Bewegungen, im Norden wie im Süden - gegen die "corporate globalisation" und ihre Normen des freien Marktes, des privaten Eigentums, der Kommerzialisierung öffentlicher Gemeingüter und die Institutionalisierung von Wissensmonopolen.

Birgit Mahnkopf, Professorin für Europäische Gesellschaftspolitik an der FH für Wirtschaft in Berlin. Sie ist Mitglied im Wissenschaftlichen Beirat von Attac, in der Grundwertekommission der SPD sowie im Wissenschaftlichen Beirat der Deutschen Stiftung Friedensforschung. Sie ist Redakteurin und Herausgeberin der Zeitschrift PROKLA.


Was tun nach der Wahl und angesichts von Privatisierung und Gesundheitsindustrie

Rolf Rosenbrock

Rede von der Gesundheit

Wer in Deutschland das Pech hat, mit seiner Ausbildung und seinem Einkommen zum untersten Fünftel der Bevölkerung zu gehören, hat auch gesundheitlich schlechte Karten: Menschen aus dem untersten Fünftel tragen über ihr ganzes Leben hinweg, von der Wiege bis zur Bahre, ein ungefähr doppelt so hohes Risiko, ernsthaft zu erkranken oder vorzeitig zu sterben wie Menschen aus dem obersten Fünftel. Diese besser Gestellten leben im Durchschnitt nicht nur etliche Jahre mehr behinderungsfrei, sondern sie leben auch länger, in Deutschland ca. fünf bis sieben Jahre.

Dieser Zusammenhang gilt weltweit, er gilt global, national, regional und in allen Lebensbereichen. Die Verminderung sozial bedingter Ungleichheit von Gesundheitschancen ist deshalb die zentrale Herausforderung jeder Gesundheitspolitik, die diesen Namen verdient. Was die Krankenversorgung angeht, steht Deutschland in dieser Hinsicht nicht schlecht da: die Gesetzliche Krankenversicherung funktioniert bei uns nach dem Solidarprinzip: Beiträge werden nicht nach dem je individuellen Erkrankungsrisiko, sondern nach der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit erhoben, als Prozentsatz vom Bruttoeinkommen. Im Grundsatz hat in Deutschland damit jeder Mensch mit einem Gesundheitsproblem unabhängig vom Geldbeutel und vom sozialen Status Anspruch auf und Zugang zu einer vollwertigen und vollständigen medizinischen Versorgung. Das ist ein hohes gesellschaftliches Gut, das es zu verteidigen gilt.

Tatsächlich aber steht das System unter Dauerbeschuss, von verschiedenen Seiten: Marktradikale Kräfte, gesponsort z.B. von der Privaten Krankenversicherung, der Pharmaindustrie und von Ärzteverbänden und unterstützt von neoliberalen Fahnenschwenkern aus Politik, Wirtschaft und Wissenschaft, schlagen vor, den Solidarausgleich aus der Krankenversicherung zu entfernen. Davon erhoffen sie sich bessere Geschäfte mit Versicherungspolicen, überteuerten Medikamenten und privaten Honoraren. Vorsätzlich nehmen sie damit offene Zwei-Klassenmedizin in Kauf, also Verhältnisse, unter denen im Krankheitsfall je nach Geldbeutel mehr gelitten oder auch früher gestorben wird.

Der Grund dafür ist einfach: Die soziale Krankenversicherung - das ist ein Jahresumsatz von ca. 140 Mrd. Euro, die nicht über den privaten Kapitalmarkt laufen. Das ist schon mal eine Provokation in einem Land, in welchem viel Kapital nach risikoarmer Anlage sucht. Nachdem bei der Rente der Einstieg in die Privatisierung so elegant gelungen ist, steht die Krankenversicherung ganz oben auf der Agenda. Nicht viel weniger gefährlich sind jene selbsternannten Reformer des Systems, die die soziale Krankenversicherung mit mehr Wettbewerb und Marktelementen weiter entwickeln wollen. Gerade zu Wahlzeiten schwillt das Gerede von Wahlleistungen, Selbstbeteiligung, Selbstbehalttarifen, Leistungsausgrenzung und Rationierung getöseartig an. Dahinter steht letztlich immer dies: dass die sozial und gesundheitlich schlechter Gestellten für ihre Gesundheit mehr bezahlen sollen oder aber eben schlechter behandelt werden. Verziert wird dieses simple Strickmuster gerne mit dem Schlagwort Selbstverantwortung, mit dem den Schwachen weis gemacht werden soll, dass sie selbst schuld sind an ihrem Unglück und deshalb auch selbst zahlen sollen. Das aber ist der sicherste Weg, Ungleichheit auf allen Ebenen zu vergrößern und echte Selbstverantwortlichkeit zu verhüten.

Derzeit konkurrieren die Krankenkassen nicht um bessere Versorgung oder mehr gesundheitliche Chancengleichheit. Aufgrund falsch gesetzter staatlicher Anreize konkurrieren sie um ‚gute Risiken’, also v.a. um junge, gut gebildete und sicher beschäftigte Versicherte. Wenn es politisch wirklich gewollt wäre, ließe sich dies zügig und nachhaltig ändern. Das Instrument dafür trägt einen bürokratischen Monsternamen: morbiditätsausgleichender Risikostrukturausgleich - ist aber trotzdem notwendig. Solange wir so etwas nicht haben, gibt es zwischen Krankenkassen auf der einen und Ärzten, Krankenhäusern etc. auf der anderen Seite ein gemeinsames Interesse daran, Versicherte aus den etwas besseren Kreisen, also Menschen mit geringerem Krankheitsrisiko und deshalb auch mit geringeren Kosten, zu bevorzugen und chronisch Kranke - und das sind im Durchschnitt auch ärmere Versicherte - zu benachteiligen.

Auch dieser eher verdeckte Einzug der Zweiklassenmedizin ist weder notwendig noch zweckmäßig, es handelt sich um den weder sachlich noch sozial begründbaren Kotau vor der Dogmenwelt des Neoliberalismus und seinen zentralen Postulaten der Konkurrenz und der Deregulierung. Dabei bietet des Gesundheitswesen reiches Anschauungsmaterial für die Tatsache, dass Deregulierung in aller Regel zur Benachteiligung der Schwächeren und zugleich zu einem Mehr an Bürokratie führt. Aber was helfen Fakten schon gegen Ideologien... Begründet werden die als Reformen getarnten Angriffe auf die erhaltenswerte Kernsubstanz der sozialen Krankenversicherung meist mit der These der Kostenexplosion, die das System angeblich unfinanzierbar macht. Aber diese Karte ist gezinkt: Ein nüchterner Blick auf die Zahlen verrät etwas ganz anderes: Die Kosten für die Krankenversorgung steigen seit über 20 Jahren ziemlich genau so schnell und so langsam wie das Bruttoinlandsprodukt. Der Anteil der Ausgaben der Krankenversicherung am Bruttoinlandsprodukt liegt seit 1980 konstant bei ca. 6 %, lediglich die deutsche Vereinigung führte zu einem leichten Anstieg. Da explodiert also gar nichts, und schon gar nicht seit 20 Jahren. Was steigt, sind die Beitragssätze. Die Beitragssätze aber sind v.a. deshalb gestiegen, weil die Einkommen aus abhängiger Arbeit hinter den Profiten des Kapitals zurückbleiben und die Arbeitslosigkeit steigt, die Lohnquote also gesunken ist; weil also beständig eine Umverteilung von unten nach oben stattfindet. Wäre die Lohnquote heute so hoch wie 1980, hätten wir heute auch die gleichen Beitragssätze vie damals, also ca. 12,5% und nicht - wie heute - 14%. Die soziale Krankenversicherung ist also durchaus kein Auslaufmodell, sondern sie kann - entsprechenden politischen Willen vorausgesetzt - die Krankenversorgung für die gesamte Bevölkerung dauerhaft, nachhaltig und solidarisch finanzieren und steuern. Neben der solidarischen Finanzierung kommt ihr dabei die Aufgabe zu, die ganz überwiegend auf Einkommens- bzw. Gewinnmaximierung orientierten Träger der Krankenversorgung, also Ärzte, Krankenhäuser, Pharmaindustrie, Pflegedienste etc. durch Verträge und Anreize dazu zu bringen, das und nur das zu tun, was gesundheitlich und medizinisch vernünftig, zweckmäßig und wirksam ist, und das mit hoher Qualität. Da ist viel zu tun: denn gegenwärtig findet dort in gigantischem Umfang und gleichzeitig sowohl Überversorgung wie auch Unterversorgung als auch Fehlversorgung statt. In keinem Land der Erde haben Marktmodelle Wesentliches zur Bewältigung dieser Probleme beigetragen, im Gegenteil. Eine vom Anreiz zur Jagd auf gute Risiken befreite soziale Krankenversicherung hingegen kann hier viel erreichen.

Eine für alle gleichermaßen zugängliche bedarfsgerechte und wirtschaftliche Versorgung ist aber nur die eine Hälfte der Gesundheitspolitik, wie wir sie brauchen. Schließlich hat die Medizin lediglich zu knapp einem Drittel zu der Verlängerung des Lebens und der Verbesserung der Gesundheit in den letzten Jahrzehnten beigetragen.

Ungefähr genauso viel wäre wohl durch Krankheitsverhütung, also durch nicht-medizinische Prävention zu holen. Dazu müssten nur all die Kenntnisse und Erfahrungen umgesetzt werden, die wir auf diesem Gebiet gesammelt haben, z.B. in der in Deutschland unerhört erfolgreichen Aids-Kampagne der 80er und 90er Jahre. Zu lernen wäre auch aus den zahlreichen Beispielen aus Betrieben, Schulen, Krankenhäusern und Stadtteilen, in denen bewiesen wurde, dass individuelle und kollektive Handlungsfähigkeit, Partizipation, Transparenz sowie funktionierende soziale Netzwerke Krankheit wirksam verhüten, und dass diese Ressourcen auch erfolgreich gefördert werden können. Aber mit solche Kampagnen ist nicht viel Geld zu verdienen, oftmals schränken sie sogar die Geschäftsmöglichkeiten ein, z.B. bei der Tabakindustrie oder der Ernährungsindustrie. Gesundheitskampagnen sprechen nicht die Sprache der Marktwirtschaft, weil sie sich eben nicht an individuelle Kaufkraft richten. Deshalb brauchen sie politische Unterstützung.

Absichtserklärungen und Deklarationen zur Prävention haben wird genug, und zwar von allen politischen Seiten. Was fehlt, sind Taten, auch gegen die Interessen mächtiger Branchen und großer Konzerne.

Der größte und wichtigste Einfluss auf die Gesundheit der Bevölkerung schließlich kommt aus Politikbereichen, die vorgeblich nichts mit Gesundheitspolitik zu tun haben. Da geht es um Bildung, Zugang zu und Verteilung von bezahlter Arbeit, um Einkommen und die Qualität sozialer Infrastruktur. Seit vielen Jahren öffnet sich in Deutschland die Schere bei der Verteilung von Einkommen, Vermögen und Bildungschancen, offene und verdeckte Armut breitet sich aus. Jede Wirtschaftspolitik, die diesen Trend wendet, ist zugleich auch gute und wahrscheinlich die wirksamste Gesundheitspolitik. Auch dies gilt global, national und regional.

Ich beschäftige mich seit mehr als 25 Jahren wissenschaftlich und politisch mit Gesundheit, Gesundheitspolitik und Krankenversorgung. In der Summe bin ich mir in drei Punkten ziemlich sicher:
  • Es ist prinzipiell möglich, auch in der kapitalistischen Marktwirtschaft eine Gesundheitspolitik zu betreiben, die diesen Namen verdient, die also die Gesundheit der Bevölkerung erhalten und verbessern kann. Aber die dazu notwendigen Regelungen müssen fast immer gegen marktwirtschaftliche Gewinninteressen, und damit gegen den neoliberalen mainstream durchgesetzt werden. Ein funktionierendes Gesundheitswesen ist deshalb in der kapitalistischen Marktwirtschaft wie eine Bastion, die gegen beständig anstürmende Begehrlichkeiten von außen und meist kommerziell angetriebene Erosionsprozesse aus dem Innern verteidigt werden muss.
  • Eine Marktwirtschaft, die es zulässt, dass der gesellschaftliche Umgang mit Gesundheit und Krankheit nach den Gesetzen von Angebot und kaufkräftiger Nachfrage geregelt wird, untergräbt ihre eigenen Funktionsvoraussetzungen und Zivilisationsstandards.
  • Für die Gesundheitspolitik ist es nicht egal, wer regiert. Aber auch Regierungen, die vor der Wahl verkünden, den solidarischen Gehalt der Gesundheitspolitik erhalten zu wollen, brauchen öffentlichen und nachhaltigen Druck sozialer Bewegungen, um dem Sog der Privatisierung zu widerstehen. Gesundheit ist ein politisches Gut und muss immer wieder mit den Mitteln der Politik erkämpft werden.
Prof. Dr. Rolf Rosenbrock, Jg. 1945, Wirtschafts-und Sozialwissenschaftler, leitet im Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB) die Arbeitsgruppe Public Health; ist Mitglied im Sachverständigenrat für die Konzertierte Aktion im Gesundheitswesen (SVR KAiG), des Vorstands im Berliner Zentrum Public Health (BZPH), stv. Vorsitzender des wissenschaftlichen Beirats der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) etc.


Innere Sicherheit und Demokratie-Abbau im Zeichen von Globalisierung und dem 11. September

Rolf Gössner

Angriff auf die Freiheitsrechte - Mit neuen „Anti-Terror“-Gesetzen in den autoritären Sicherheitsstaat?

Terror stärkt den Staat und entwertet Freiheitsrechte - das hat sich seit dem 11. September 2001 wieder deutlich gezeigt. Ein Jahr nach den Terroranschlägen in den USA ist es höchste Zeit, endlich Bilanz darüber zu ziehen, was seitdem im Namen der Terrorismusbekämpfung, im Namen der Sicherheit angerichtet worden ist. Die Anschlagsserie in den USA sollte uns eigentlich bewusst gemacht haben, wie verletzlich hochtechnisierte Risikogesellschaften sind. In keiner Gesellschaft gibt es einen absoluten Schutz vor Gefahren und Gewalt - schon gar nicht in einer liberalen und offenen Demokratie. Es grenzt daher an Volksverdummung, wenn die herrschende Sicherheitspolitik gerade diese Allmacht suggeriert - während die staatliche Hochrüstung selbst zu einer Gefahr für die BürgerInnen wird, der Sicherheitsminister zu einem Sicherheitsrisiko. Das Streben nach totaler Sicherheit birgt totalitäre Züge. Es kann zerstören, was es zu schützen vorgibt: die Freiheit.

Der Aktionismus eines Otto Schily führte - unter Missachtung des Parlaments - zu den umfangreichsten „Sicherheitsgesetzen“, die in der bundesdeutschen Rechtsgeschichte jemals auf einen Streich verabschiedet wurden. Und diese Rechtsgeschichte ist ja nun seit den Notstandgesetzen wahrlich nicht arm an freiheitsbeschränkenden Gesetzeswerken. Ausgerechnet eine rot-grüne Bundesregierung sattelte auf diesen immensen Fundus des Präventions- und Repressionsarsenals noch drauf (ohne die Grünen wäre es allerdings noch schlimmer gekommen) - ohne auch nur die Frage zu stellen, ob nicht die bereits geltenden Gesetze zur Bewältigung der Gefahrensituation ausgereicht hätten.

Die "innere Sicherheit" beginnt hierzulande schließlich nicht bei Null, sondern kennt längst ein ausdifferenziertes System von Anti-Terror-Regelungen mit zahlreichen Sondereingriffsbefugnissen, kennt die Raster- und Schleppnetzfahndung, verdachtsunabhängige "Schleierfahndungen" und Videoüberwachungen, eine Fülle von Abhör- und Kontrollmöglichkeiten bis hin zum Großen Lauschangriff in und aus Wohnungen; nicht zu vergessen die seit Jahren verschärfte Ausländerüberwachung. Wir haben bereits eine Fülle von hochproblematischen Regelungen, angelegt auf Vorrat - sozusagen für den ganz normalen Ausnahmezustand.

Anders als viele bürgerrechtsbewegte Menschen gehofft hatten, gab es nach Ablösung der Kohl-Regierung 1998 - mit wenigen Ausnahmen - kein wirkliches >Umdenken und Umsteuern in der Politik der sog. Inneren Sicherheit<. Die bürgerrechtsfeindlichen Früchte dieser Politik wurden nicht auf den Prüfstand gestellt. Stattdessen hat die rot-grüne Bundesregierung weitgehend auf dieser Grundlage ihrer Vorgängerin aufgebaut.

Selbstverständlich gehört es zu den Aufgaben und Pflichten von Regierung und Sicherheitsbehörden, die Mittäter und Hintermänner der Terror-Anschläge zu ermitteln und mit geeigneten, aber angemessenen Maßnahmen für die Sicherheit der Bürger zu sorgen. Doch in einer solch prekären Situation wäre es Pflicht der Regierung gewesen, Realitätssinn und Augenmaß zu bewahren, statt dem Schrei nach dem „starken Staat“ mit symbolischer Politik zu folgen, lang gehegte Pläne gleich paketweise aus den Schubladen zu zerren und mit Anti-Terror-Etiketten zu bekleben. Die sog. Otto-Kataloge sind weitgehend ineffizient, schaffen kaum mehr Sicherheit, gefährden aber die Grund- und Freiheitsrechte umso mehr:
  • Schon bislang gehörten MigrantInnen zu der am intensivsten überwachten Bevölkerungsgruppe. Nun werden sie per Gesetz unter Generalverdacht gestellt und einem noch rigideren Überwachungsregime unterworfen. Mit dieser Sonderbehandlung werden Fremde stigmatisiert und fremdenfeindliche Ressentiments geschürt.
  • Ausgerechnet die Geheimdienste, deren Versagen im Zusammenhang mit dem 11.9. offenkundig geworden ist, erleben nach den Anschlägen einen regelrechten Boom. Sie werden aufgerüstet, bekommen im weiten Vorfeld des Verdachts neue Aufgaben und Kontrollbefugnisse, obwohl sie selbst kaum demokratisch zu kontrollieren sind.
  • Tausende von Beschäftigten in sog. lebens- oder verteidigungswichtigen Betrieben (u.a. Energie-Unternehmen, Krankenhäuser, pharmazeutische Firmen, Bahn, Post, Telekommunikationsbetriebe) werden künftig geheimdienstlichen Sicherheitsüberprüfungen unterzogen und ausgeforscht - und nicht nur sie, sondern möglicherweise auch ihre Lebenspartner und ihr soziales Umfeld.
  • Künftig sollen weitere biometrische Daten in Ausweispapieren gespeichert werden - also körperliche Merkmale wie Finger-/Handabdruck oder Gesichtsgeometrie. Die biometrische Totalerfassung der Gesamtbevölkerung ist nicht nur ein unverhältnismäßiger Eingriff in die informationelle Selbstbestimmung, sondern auch eine grandiose Misstrauenserklärung an die Bevölkerung. Sie degradiert den Menschen zum bloßen Objekt staatlicher Sicherheitspolitik.
  • Mit dem neuen § 129b StGB können internationale Kontakte und politische Debatten mit ausländischen Vereinigungen, wie etwa der palästinensischen PLO, zum strafrechtlichen Risiko geraten. Auch auf europäischer Ebene treibt der „Anti-Terror“ seltsame Blüten: Die Mitgliedstaaten haben sich auf eine gemeinsame EU-Terrorismusdefinition verständigt, die so weit gefasst ist, dass darunter selbst militante Straßenproteste wie die in Genua fallen könnten, oder Formen des zivilen Ungehorsams, wie Sitzblockaden vor Atomkraftwerken oder politische Streiks in Versorgungsbetrieben. Der „Gegenterror“ trifft auch den Globalisierungs- und Anti-Atom-Protest.
Schon vor dem 11.9. ist die Reise-, Versammlungs- und Meinungsfreiheit zahlreicher Globalisierungskritiker suspendiert worden. Mit Ausreiseverboten, Pass-Beschlagnahmen, Meldeauflagen und Polizeiaufsicht wurden sie daran gehindert, nach Stockholm, Salzburg oder Genua zu reisen, um an internationalen Protesten teilzunehmen. Solche Maßnahmen werden auf eine „Gewalttäter-Links“-Datei des BKA gestützt. Darin sind nicht etwa nur rechtskräftig Verurteilte gespeichert, sondern auch Personen, die nur mal in eine Personalienfeststellung der Polizei geraten sind oder bei denen „die Persönlichkeit“ Grund zu der Annahme gibt, dass sie künftig straffällig werden könnten. Diese skandalöse Praxis ist bis heute nicht behoben. Alles in allem: Es scheint, als befänden wir uns in einem nicht erklärten Ausnahmezustand, in dem die Kompetenzen und Befugnisse aller Sicherheitsorgane abermals erweitert, die macht-begrenzenden Trennungslinien zwischen Polizei und Geheimdiensten bis zur Unkenntlichkeit verwischt werden, ganze Bevölkerungsgruppen zu Sicherheitsrisiken mutieren, ganze Lebensbereiche mit problematischen Rasterfahndungen überzogen werden - und ganz nebenbei wird eine der ältesten rechtsstaatlichen Errungenschaften, die Unschuldsvermutung, aufgegeben, die Beweislast umgekehrt. Das sind Merkmale eines autoritären Sicherheitsstaates, in dem Rechtssicherheit und Vertrauen verloren gehen, Verunsicherung und Verängstigung gedeihen.

Die Anschlagsserie in den USA gilt vielen Politikern als Angriff gegen Demokratie, Freiheit und die offene Gesellschaft. Könnte es nicht sein, dass die sicherheitspolitischen Reaktionen auf diese Terroranschläge wesentlich größeren, nachhaltigeren Schaden an Demokratie, Freiheit und Bürgerrechten anrichten, als es die Anschläge selbst vermochten? Der Einfluss von Usama bin Laden und Al Kaida auf die Gesetzgebung in diesem Lande scheint beträchtlich.

Es war der Liberale Burkhard Hirsch, der Otto Schilys „Sicherheitspaketen“ insgesamt Respektlosigkeit „vor Würde und Privatheit seiner Bürger“ bescheinigte sowie „totalitären Geist“. Dem wäre eigentlich nichts hinzuzufügen. Außer vielleicht die Frage, warum sich die Menschen in diesem Land - anders als etwa in Zeiten der „Volkszählung“ in den 80er Jahren - das alles gefallen lassen, warum sich so wenig Widerstand regt. Der heutige Aktionstag ist zwar ein hoffnungsvolles Signal. Doch in Zeiten, in denen Menschenrechte mehr und mehr als Hindernis auf dem Weg zur „Sicherheit“ begriffen werden, müssen wir weiterdenken - etwa in Richtung eines europäischen Netzwerkes für Menschenrechte. Es geht um nicht mehr und nicht weniger als um die Verteidigung elementarer Freiheits- und Bürgerrechte - und damit auch um die Aktionsbedingungen von internationalen Protest- und Widerstandsbewegungen, die sich für eine andere, für eine gerechtere Welt engagieren.

Dr. Rolf Gössner (Bremen) ist
  • Rechtsanwalt, Publizist und parlamentarischer Berater
  • Autor zahlreicher Bücher und Aufsätze u.a. in: Blätter für deutsche und internationale Politik, Frankfurter Rundschau, Freitag, Neues Deutschland, die tageszeitung (taz), vorgänge und Widerspruch (Zürich).
  • Mitherausgeber von „Ossietzky“ - Zweiwochenschrift für Politik/Kultur/Wirtschaft (Hannover/Berlin).
  • Sachverständiger in Gesetzgebungsverfahren des Bundestages und von Landtagen.
  • Mitglied der Jury zur jährlichen Verleihung des Negativpreises „BigBrotherAward“ an Firmen, Behörden und Politiker, die in besonderem Maße gegen den Datenschutz verstoßen (2001: Bundesinnenminister Otto Schily).
Buchveröffentlichungen (Auswahl):
  • Das Anti-Terror-System - Politische Justiz im präventiven Sicherheitsstaat, Hamburg 1991 ·Mythos Sicherheit - Der hilflose Schrei nach dem starken Staat, Nomos-Verlag, Baden-Baden 1995 (Hg.);
  • Polizei im Zwielicht - Gerät der Apparat außer Kontrolle? (zus. mit Oliver Neß), Campus-Verlag, Frankfurt/New York 1996
  • Die vergessenen Justizopfer des Kalten Kriegs. Verdrängung im Westen - Abrechnung mit dem Osten? (akt. und erw. Neuauflage) Aufbau-Verlag, Berlin 1998
  • Erste Rechts-Hilfe - Rechts- und Verhaltenstips im Umgang mit Polizei, Justiz und Geheimdiensten, Die Werkstatt, Göttingen 1999
  • ‘Big Brother‘ & Co. - Der moderne Überwachungsstaat in der Informationsgesellschaft”, Konkret Literatur Verlag, Hamburg 2000.

Gleiche Rechte für MigrantInnen

Miltiadis Oulios und Kalliopi Gialama, Kanak Attak

Es gibt Lehrerinnen und Lehrer in diesem Land, die erklären ihren Schülern, wie die Bundestagswahl in Deutschland funktioniert - aber sie selbst dürfen nicht wählen. Es gibt Menschen in diesem Land, die pflegen Alte. Aber sie selbst können nicht zum Arzt gehen, weil sie keine Papiere haben. Es gibt Kinder in diesem Land, die immer noch auf die schlechteren Schulen geschickt werden, weil sie keinen deutschen Namen haben. Es gibt Menschen in diesem Land, die werden für ihre Arbeit nicht bezahlt. Weil sie sonntags auf der falschen Baustelle, im falschen Bordell oder im falschen Restaurant gearbeitet haben.

Wir von kanak attak rufen zu einer Kampagne für ein Recht auf Legalisierung auf. Im folgenden wollen wir euch einladen, das Recht des Aufenthalts in Deutschland auf völlig neue Füße zu stellen. Wir akzeptieren nicht mehr den Begriff „Ausländer“ - wir leben hier, wir bleiben hier, wir gehören hierhin. Und wir wollen darlegen, von welchem Punkt aus der Rassismus praktisch bekämpft werden kann. Nämlich vom Widerstand der Kanakinnen und Kanaken aus.

In Deutschland leben heute mehr als eine Million Menschen, die keine gültigen Aufenthaltspapiere in der Tasche haben. Ob es einigen passt oder nicht. Auf der anderen Seite leben acht Millionen Menschen in Deutschland, die nicht die deutsche Staatsbürgerschaft besitzen. Aber im Ausländergesetz steht „Aufenthaltsvorbehalt“. Das bedeutet: Auch diesen 8 Millionen kann unter Umständen das Aufenthaltsrecht streitig gemacht werden. Selbst wenn man hier geboren ist.

In jeder kanak-Community haben die Leute Bekannte oder Verwandte, die den seltsamen Zustand, „Ohne Papiere“ zu sein, nur allzu gut kennen. Aber: Man ist nie illegal, man wird dazu gemacht. Und viele profitieren davon. Der Prozess, mit dem Leute „illegal“ gemacht werden, findet nicht nur an der Grenze statt. Er läuft vor allem quer durch unser Land.

Das sind Studenten, die nach ihrem Studium entscheiden, in Deutschland zu bleiben. Touristen, die sich verlieben und hier leben wollen. Leute, die ihren Arbeitsplatz verlieren und ausgewiesen werden sollen. Die aber trotzdem hier bleiben in ihrem sozialen Umfeld. Freunde, die die selbe Zeit in Deutschland leben, aber in EU- und Nicht-EU-Bürger geteilt werden. Asylbewerber, die im Annerkennungsverfahren erniedrigt und dann abgelehnt werden und sich das nicht gefallen lassen, in dem sie untertauchen. Flüchtlinge, die hier leben, aber nicht ihre Stadt verlassen dürfen und es trotzdem tun. Menschen, die hier wohnen aber nicht arbeiten dürfen. Menschen, die hier arbeiten, aber nicht wählen dürfen.

Schließlich bringt das neue Zuwanderungsgesetz neue desolate Lebensbedingungen. Wenn es Anfang nächsten Jahres in Kraft tritt, wird der Titel der Duldung wegfallen. Und dann werden auf einen Schlag eine halbe Million Menschen illegalisiert.

„Illegalisierung“ - bedeutet Entrechtung. Es ist die Tatsache, dass man Einwanderern ihre Rechte verweigert. Und das beginnt immer noch mit der Idee, dass man eigentlich nicht das Recht hätte, in Deutschland zu leben. Wie illegal war ich eigentlich, als ich 16 Jahre alt wurde und zur Ausländerbehörde musste, um eine Aufenthaltserlaubnis zu bekommen? Dabei bin ich hier geboren.

Der deutsche Staat erzeugt verschiedene Stufen der Rechtlosigkeit - auch für die, die schon lange Papiere haben. Gleichzeitig aber schaffen es die Gesetze nicht, zu verhindern, dass Menschen selbst entscheiden, wo sie leben wollen. Es gibt die Autonomie der Migration. Die Gesetze können nicht verhindern, dass die Leute hier sind, aber sie versuchen ihnen das Leben schwer zu machen. Sie wollen sie kontrollieren, um sie unten zu halten. Dieser Versuch muss zunichte gemacht werden. Denn er errichten Hürden. Manche haben nicht einmal ein Recht auf Aufenthalt. Andere haben nicht das Recht, ihren Job frei zu wählen. Wieder andere haben zwar beides, aber keine politischen Rechte.

Und wenn wir Rechte fordern, heißt es, wir sollen uns erst mal integrieren. Wir wenden uns gegen den Begriff der Integration. Wenn von Integration geredet wird, dann um über Diskriminierung zu schweigen. Wir lassen uns aber nicht vorschreiben, wie wir zu leben haben. Wir lassen uns nicht demokratische Rechte von so genannten kulturellen Unterschieden abhängig machen.

Wenn der deutsche Staat heute Integration fordert, versucht er unsere gemeinsamen Kämpfe unsichtbar zu machen. Statt kollektiver Rechte soll sich jeder einzeln anpassen, um willkürlich belohnt zu werden. Rechte aber sind das Ergebnis von Kämpfen und nicht von Anpassung. Und die Einwanderer haben von Anfang an für ihre Rechte gekämpft. Sie haben in den Siebzigern gestreikt für gleiche Löhne und als erste Häuser besetzt, um besser wohnen zu können. Sie sind hier geblieben, als der Staat ihnen in den Achtziger Jahren Geld gab, damit sie weggehen. Und die Kanaken haben in den Neunzigern dafür gesorgt, dass in ihren Vierteln Nazis keine Chance haben, und dann hieß es, wir schotten uns ab in den so genannten Ghettos.

Wir stellen uns daher nicht in einen luftleeren Raum. Die heutigen Kämpfe der Migrantinnen und Migranten sind die Fortsetzung einer Tradition. Und sie beginnen im Alltag. Jedes Mal dort, wo der deutsche Staat seine Kanaken nicht kontrollieren kann. Und deshalb ist das Recht auf Legalisierung die Bedingung für einen neuen politischen Prozess. Das ist genau das, wovon der Staat nicht reden will, und womit er immer mehr umgehen muss.

Kanak Attak geht es darum, in dieser historischen Situation selbstbewusst endlich wieder Grundsatzfragen zu stellen, offensiv zu werden. Lasst uns über das Aufenthaltsrechts reden. Alle Menschen, die ihren Aufenthalt in Deutschland legalisieren wollen, sollen dazu eine grundsätzliches Recht erhalten.

Kanak Attak fordert: Die Bürgerechte müssen daran gekoppelt werden, wo wir leben, nämlich am Wohnort. Politische Rechte: wie Wahlrecht, Versammlungsfreiheit, Freizügigkeit dort, wo wir leben. Soziale Rechte: wie den gleichen Zugang zu Arbeitsplätzen, zu Bildung und besseren Wohnungen, dort wo wir leben. Unabhängig von der Staatsangehörigkeit.

Die Globalisierungskritik darf nicht die Augen davor verschließen, unter welchen rassistischen Bedingungen Migration passiert. Jede Kritik am Kapitalismus ist nur fortschrittlich, wenn sie nicht nationalistisch wird: für einen Mindestlohn kann man nur kämpfen, wenn auch jene Arbeiterinnen und Arbeiter berücksichtigt werden, die bislang weder einen Anspruch darauf haben, noch legal dafür kämpfen können.

Der politische Prozess für ein Recht auf Legalisierung und die Koppelung politischer Rechte in Deutschland am Wohnort ist die Antwort auf den Versuch, uns zu verwerten und unten zu halten. Wir sagen: Wenn Globalisierung - dann die Globalisierung von Rechten. Die Globalisierung von gleichen politischen und sozialen Rechten. Wir laden euch ein, diese Perspektive zum gemeinsamen Ziel unserer Kämpfe zu machen.

Kanak Attak!


Globalisierungskritik von unten - Politik neu erfinden

Markus Wissen

Ein internationalistischer Beitrag zu der heutigen Kundgebung sollte vielleicht mit ein paar Worten zu dem Internationalismus-Verständnis beginnen, von dem er ausgeht.

Viele von euch verbinden mit Internationalismus vermutlich den Kampf von Befreiungsbewegungen im Süden und die Unterstützung dieses Kampfes durch Solidaritätsgruppen im Norden. Dies war in der Tat ein wichtiges Merkmal des Internationalismus der 1960er, -70er und -80er Jahre.

Seitdem hat sich allerdings einiges verändert, und zwar sowohl im Süden als auch im Norden: Viele nationale Befreiungsbewegungen sind gescheitert oder wurden durch die Eroberung der Staatsmacht korrumpiert. Gruppen aus dem Norden mussten erkennen, dass sie die Objekte ihrer Solidarität oft mit Erwartungen und Projektionen überfrachtet hatten. Rassistische Gewalt ist in der Bundesrepublik zu einer Alltäglichkeit geworden. Und schließlich hat die neoliberale Globalisierung zu einer Annäherung von Erfahrungshorizonten in Nord und Süd geführt. Die Durchökonomisierung des Alltags, wie sie vielen Menschen in der Dritten Welt von ihren Regierungen und dem Internationalen Währungsfonds verordnet wurde, ist auch bei uns keine Unbekannte mehr. Davon zeugen z.B. die Privatisierung sozialer Leistungen, die schrittweise Verwandlung von Bildung in eine Ware oder Maßnahmen wie die von der Hartz-Kommission vorgeschlagene sog. „Ich-AG“.

Ein zeitgemäßes Verständnis von Internationalismus muss sich diesen Entwicklungen stellen. Internationalismus muss heute heißen, sich unterschiedlichen Herrschaftsverhältnissen - kapitalistischen, patriarchalen oder rassistischen - überall dort zu widersetzen, wo diese Herrschaftsverhältnisse auftreten: am Arbeitsplatz, an der Uni, im Stadtteil, in politischen Gruppen oder in persönlichen Beziehungen.

Internationalismus muss des Weiteren heißen, nationale und internationale Institutionen wie den IWF oder die WTO als Ausdruck von Herrschaftsverhältnissen zu begreifen und, wie etwa in Seattle oder Genua geschehen, zu delegitimieren.

Und schließlich muss Internationalismus heißen, sich bewusst zu machen, dass der Kampf gegen Herrschaftsverhältnisse nur dann erfolgreich sein kann, wenn wir Formen der internationalen Zusammenarbeit entwickeln, die der Verschiedenheit der lokalen, regionalen und nationalen Kämpfe Rechnung tragen. Die globalisierungskritische Bewegung - verstanden als globaler Ausdruck lokaler, regionaler und nationaler Initiativen - lässt ein solches Verständnis von Internationalismus praktisch werden.

Was heißt das alles nun im Kontext der heutigen Veranstaltung? Ich glaube, dass sich uns drei Herausforderungen stellen: Einmal dürfen wir nicht müde werden in unserer Kritik an der herrschenden Politik und den herrschenden Institutionen - Kritik nicht in dem Sinne, dass wir die Regierenden mit ihren uneingelösten Versprechen konfrontieren. Das können wir uns wirklich sparen. Worum es geht, ist, dass wir eine Woche vor der Bundestagswahl den Sinn dieser Wahl selbst in Frage stellen. Denn: Was ist das für eine Wahl, bei der es eigentlich gar nichts zu wählen gibt, bei der man sich allenfalls zwischen einem rot-grünen und einem schwarz-gelben Neoliberalismus entscheiden kann? Welchen Sinn macht eine Wahl, wenn diejenigen, die uns zum Wählen auffordern, nicht müde werden zu betonen, es gebe eigentlich gar keine Alternative zu mehr Markt, mehr Flexibilität, mehr Militär und mehr Ungleichheit?

Den Sinn und Zweck dieser Wahl anzuzweifeln, reicht allerdings nicht aus. Wir müssen - und das ist die zweite Herausforderung - weiter gehen und nichts weniger als ein neues Verständnis von Politik entwickeln. Wenn von Politik die Rede ist, dann denken die meisten Menschen zuallererst an Regierungen, Parlamente und Parteien, kurz: an den Staat. Ich will nicht bestreiten, dass im Staat Politik gemacht wird. Aber ich bestreite energisch, dass es möglich ist, den Staat für emanzipatorische Politik zu nutzen. Diese Erwartung ist historisch diskreditiert. Und wenn es hierfür noch eines durchschlagenden Beweises bedurft hätte, dann hat ihn Rot-Grün in den letzten vier Jahren geliefert.

Staatliche Politik unter den gegebenen Bedingungen besteht vor allen Dingen in der Verallgemeinerung mächtiger Partikularinteressen. Wir sollten uns frei machen von dem Glauben, durch genügend Druck von unten ließe sich hieran etwas Grundlegendes ändern. Wir sollten deshalb unser Handeln auch nicht mehr primär auf den Staat hin orientieren und glauben, unsere Forderungen könnten dort berücksichtigt werden. Wir sollten im Gegenteil der staatlichen Politik das Politikmonopol absprechen, das sie sich anmaßt: Politik ist nicht gleich Staat. Politik ist vor allem das, was wir tun: nämlich sich mit der herrschenden Alternativlosigkeit nicht länger abzufinden und für offene Gestaltungsbedingungen zu kämpfen.

Nun höre ich schon die Frage: Was ist denn eure Alternative? Wie soll denn die andere Welt, die ihr für möglich haltet, aussehen? Mit solchen Fragen sollten wir gelassen umgehen. Denn sie sind schlicht und ergreifend falsch gestellt.

Es kann bei dem, was wir tun, nicht darum gehen, eine andere Welt am Reißbrett zu entwerfen. Das ist schon öfter versucht worden und hat entweder niemanden interessiert oder geradewegs in die Katastrophe geführt. Heute bestünde bei solch einem Vorhaben außerdem die Gefahr, die globalisierungskritische Bewegung auf den einheitlichen Nenner eines Reformkonzepts bringen zu wollen. Damit würde dieser noch sehr jungen Bewegung genau das genommen, was ihre Stärke ausmacht: nämlich ihre Verschiedenheit.

Die Forderung, eine ausgearbeitete Alternative zu präsentieren, ist oft nur einer der vielen Versuche, unseren Protest zu delegitimieren. Sie gehört deshalb mit zu dem, was wir bekämpfen sollten.

Es kommt heute ganz wesentlich darauf an - und das ist die dritte Herausforderung - eine produktive Unordnung herzustellen. Das heißt, es muss darum gehen, die neoliberale Normalität, die täglich unendlich viel Leid produziert, zu erschüttern und als den eigentlichen Wahnsinn kenntlich zu machen. Die mexikanischen Zapatisten haben das auf die Formel gebracht: Ya basta! - Es reicht!

Wenn es uns gelingt, diese Formel in unsere Kontexte zu übersetzen, dann werden sich jene Denk- und Handlungsräume öffnen, in denen sich Alternativen entwickeln können. Aber auch dann gilt: Alternativen sind keine fertigen Entwürfe, die nur umgesetzt werden müssten, um die Welt anders zu gestalten. Alternativen sind der Weg selbst. Sie zeigen sich in der praktischen Veränderung unserer Alltagsverhältnisse in einem radikaldemokratischen Sinn. Sie zeigen sich dort, wo wir in unseren jeweiligen Lebenskontexten Herrschaftsverhältnisse aufdecken und uns mit anderen zusammentun, um sie zu beseitigen.

Markus Wissen, Mitglied im Arbeitsschwerpunkt Weltwirtschaft der Bundeskoordination Internationalismus (BUKO) und Sozialwissenschaftler an der Uni Frankfurt/M.


Ein Regierungswechsel ist noch kein Politikwechsel

Astrid Kraus, attac-Koordinierungskreis: Positionen von Attac Deutschland

Liebe Freundinnen und Freunde,

Wahlkampfzeiten sind eine Art politischer Ausnahmezustand. Es geht zu wie am Boxring oder im Stadion. Und gegen Schluss steigt die Stimmung: wie beim Elfmeterschießen nach dem Unentschieden.

Wir wollen aber auch in dieser Zeit kühlen Kopf bewahren und dafür sorgen, dass die gesellschaftspolitischen Grundfragen nicht zwischen hohlen Wahlversprechen, geschönten Erfolgsbilanzen und markigen Oppositionsphrasen untergehen. Wir lassen uns Kritik nicht verbieten!

Denn wir wissen: die Veränderungen, die wir brauchen, kommen nicht durch Wahlen. Diese Veränderungen sind überfällig. Zwei Jahrzehnte Globalisierung unter neoliberalem Diktat haben viele Verlierer und wenige Gewinner hervorgebracht. Die Armut wächst. In den armen Ländern wie bei uns. Die Löcher in den sozialen Netzen werden immer größer. Die Finanzmärkte spielen sich als „Fünfte Gewalt“ im Staat auf, und die Umwelt ist unter die Räder des Profitstrebens geraten. Die neue Weltunordnung ist auf Dauer nur mit Gewalt aufrecht zu erhalten. Deshalb wenden wir uns gegen die Militarisierung der Außenpolitik, gegen die Eingreiftruppen, gegen das neue Mandat der NATO und gegen Kriegseinsätze der Bundeswehr.

ATTAC ist ein außerparlamentarischparteiliches Netzwerk. Wir werden deshalb keine Empfehlung abgeben, zu wählen oder nicht zu wählen, oder Partei X oder Y die Stimme zu geben. Das ist auch gar nicht nötig. ATTAC-Mitglieder und ATTAC Anhängerinnen und Anhänger sind überdurchschnittlich politisiert und informiert. Sie brauchen keine politische Gouvernante. Übereifrigen Wahlkämpfern von Rot-Grün, die uns vorwerfen, wir würden Stoiber oder gar Rattenfängern wie Möllemann die Schafe in die Scheune treiben, empfehlen wir, das kleine Einmaleins der Politik: Wahlen verliert man nicht, weil die ATTAC keine Schützenhilfe gibt, sondern wegen vier Jahre schlechter Politik. Wie wir aus der Presse erfahren haben, haben uns die Grünen einen Brief geschrieben, in dem sie uns ihre Zusammenarbeit anbieten. Wir finden es positiv, dass in dem Brief die mangelnde Offenheit gegenüber der globalisierungskritischen Bewegung eingestanden wird. Wir können uns durchaus vorstellen, dass es bestimmte Situationen geben kann, in denen außerparlamentarische Bewegung und parlamentarische Kräfte zusammen wirken. Die zurückliegende Legislaturperiode hat in dieser Hinsicht aber keinerlei Ansatzpunkte erkennen lassen.

Gerade die letzte Legislaturperiode hat uns gezeigt: ein Regierungswechsel ist noch lange kein Politikwechsel.

Die Bundesregierung hat in folgsamer Nibelungentreue zur reinen Lehre des Neoliberalismus in allen Grundfragen die Politik der Ära Kohl fortgesetzt. Natürlich wissen wir, dass es auch das ein oder andere Vernünftige gab. Aber in den entscheidenden Punkten wurde der neoliberalen Globalisierung nicht nur nichts entgegengesetzt, sondern fleißig mitgemacht. Beispiel Steuerreform: Hauptgewinner sind Unternehmen, Aktionäre und Geldbesitzer, während der Anteil für Familien durch die Austrocknung der Kommunalfinanzen längst wieder aufgefressen ist. Wenn die Preise für ÖPNV, Kindergarten und Bibliothek steigen, trifft das vor allem die sozial Schwächeren. Umverteilung von unten nach oben und von den öffentlichen in die privaten Hände. Neoliberalismus pur, wie bei Kohl. Hinzu kommt die Freistellung von Veräußerungsgewinnen. Das ist eine Weichenstellung in Richtung Shareholder-Kapitalismus. Übernahmen und Fusion - und damit Arbeitsplatzabbau - wird Tür und Tor geöffnet. Wenn das für linke Politik gehalten wird, können wir nur sagen: Tut uns Leid, nicht mit uns! Auch mit der Einführung der Riesterrente und dem damit verbundenen Systembruch hat die rot-grüne Regierung uns deutlich gezeigt, was wir von ihr zu erwarten haben.

Nächstes Beispiel - Arbeitsmarktpolitik: Die Vorschläge der Hartz-Kommission schaffen keine Arbeitsplätze, es sei denn im schlecht bezahlten Dienstbotenbereich, wo die working poor der nächsten Jahre drohen. Ungeachtet von Einzelheiten laufen die Maßnahmen auf die Bekämpfung der Erwerbslosen, statt auf die Bekämpfung der Erwerbslosigkeit hinaus. Das ist genauso wenig linke Politik wie die Erde eine Scheibe ist!

Weiter: Der Abbau der Staatsverschuldung: In einer Lage, in der eine Konjunkturkrise in einem großen crash zu enden droht, ist es einfach nur verantwortungslos, Sparpolitik zum Dogma zu erheben. Damit gießt man Öl ins Feuer! Und schließlich Beispiel WTO: von der Öffentlichkeit kaum bemerkt, laufen Verhandlungen zur Liberalisierung der Dienstleistungen, darunter Gesundheit und Bildung. Ist die Liberalisierungsmaschinerie der WTO einmal angelaufen, ist das Zweiklassensystem vorprogrammiert. Hochwertige Angebote für die, die es sich leisten können, Rumpfversorgung für den Rest. Es wird wieder heißen: weil Du arm bist, bleibst Du dumm und musst Du früher sterben.

Aber: Gesundheit und Bildung sind keine Ware! Auch unser Trinkwasser darf nicht zur Ware werden. Die großen Wasseranbieter aus der EU wollen mit den WTO-Verhandlungen Märkte aufreißen. Der Zugang zu sauberem Wasser ist ein Grundrecht, das nicht vom Geldbeutel abhängig gemacht werden darf.

Überhaupt die EU: sie wird gerne als Alternative zum amerikanischen Kapitalismus gepriesen. Hinter der rhetorischen Fassade wird in der Praxis aber ein knallharter Neoliberalismus durchgezogen. Die Hauptpfeiler sind der sog. Stabilitätspakt von Maastricht, die Geldpolitik der Europäische Zentralbank und die Abschottung gegen die Armen der Welt. Da muss sich was ändern. Die neoliberale Orientierung muss fallen. Die EZB muss aus ihrer totalen Abhängigkeit vom Marktfundamentalismus gelöst werden.

Bei unserer Bilanz ist der größte Negativposten noch nicht berücksichtigt: die „Enttabuisierung des Militärischen“, wie Gerhard Schröder stolz formulierte, mit all den Militäreinsätzen von Jugoslawien bis Afghanistan. Zu dieser wahrhaft einzigen historischen Leistung von Rot-Grün wäre eine andere Regierung kaum in der Lage gewesen. Kam es doch darauf an, eine relativ starke pazifistische Grundströmung in der Bevölkerung und die Friedensbewegung zu neutralisieren. Wenn wir jetzt hören, dass sowohl Schröder als auch Stoiber letztlich bei einem Krieg im Irak nicht mitmachen wollen, so ist das zumindest nicht negativ. Aber : Es gibt keinen Grund, ihnen zu glauben. Wenn es beim nein bleiben soll, dann muss der Druck aus der Gesellschaft stark genug sein.

Liebe Freundinnen und Freunde,

Emanzipatorische Veränderungen können nur durch gesellschaftliche Bewegung kommen. Entscheidend ist, die politischen Kräfteverhältnisse zu verändern und ein Klima entstehen zu lassen, in dem Alternativen zum Turbokapitalismus Spielräume bekommen. Politischer Wandel ist das Resultat langwieriger Auseinandersetzungen. Wahlen können solche Ergebnisse allenfalls besiegeln und zu ihrer zeitweiligen Festschreibung beitragen, sie aber nicht selbst herbeiführen.

Deshalb: mehr als vom 22. September hängt von einer starken globalisierungskritischen Bewegung ab. Diese Bewegung ist die emanzipatorische Antwort auf die Globalisierung. Ihre Stärke, oder ihre Schwäche, wird über den 22. hinaus ein wesentlicher Faktor dafür sein, ob die Globalisierung weitere Verwüstungen anrichtet, oder in soziale, demokratische und ökologische Bahnen gelenkt werden kann.

Wer auch immer nach dem 22. September die Regierung stellt: wir haben den neoliberalen Kurs satt. Deshalb werden wir auch nach dem 22. auf der Matte stehen: In der Kampagne gegen die Dienstleistungsverhandlungen in der WTO, beim Europäischen Sozialforum in Florenz im November, beim Weltsozialforum in Porto Alegre und beim ersten G 8 auf europäischem Boden nach Genua, im französischen Evian.

Wir werden immer mehr. Und kein Kanzler, welcher Couleur auch immer, wird an uns vorbeikommen. Her mit dem schönen Leben! Eine andere Welt ist möglich.

Astrid Kraus ist Diplom Kauffrau und Steuerberaterin. Seit 2001 ist sie Mitglied im bundesweiten Koordinierungskreis von Attac. Aktiv in der Ortsgruppe Köln und in der bundesweiten AG Soziale Sicherungssysteme.


Globalisierung und soziale Gerechtigkeit

Ann Pettifor, Großbritannien (aus dem Englischen in leicht gekürzter deutscher Übersetzung)

Wir versammeln uns heute zum Zeitpunkt einer weltweiten, wirtschaflichen Krise, verursacht durch eine "Globalisierung", die immer größere Spannungen hervorruft, zwischen Reich und Arm, zwischen denen, die Arbeit haben, und denen die keine haben, zwischen Schuldnern und Gläubigern, zwischen Nord und Süd, zwischen den imperialistischen USA und der EU auf der einen Seite, und dem Rest der Welt auf der anderen.

Es ist kein Zufall, dass wir vor einem Krieg stehen: Die "Globalisierung" hat die heutigen Spannungen mitverursacht und verstärkt, ähnlich wie zu früheren Epochen von "Globalisierung", z.B. in den 20er Jahren des letzten Jahrhunderts. Auch damals bestimmten die Interessen der Finanzwelt und der Konzerne die Welt, und die Konflikte wurden letztlich auf die destruktivste aller Arten ausgetragen: durch Krieg.

Heute erleben wir etwas ähnliches wie unsere Eltern und Großeltern. Auch sie erlebten die "Globalisierung" der 20er Jahre, als die Finanzwelt eine global einheitliche Währung verlangte, damals den Goldstandard. Heute ist es entweder der Euro in Europa oder die "Dollarisierung" in der Dritten Welt, Hauptsache die Banken können ihre Profite und Vermögen weltweit einsammeln, ohne Risiko auf Verlust.

Auch heute wird die Weltwirtschaft von den Interessen der Finanzwelt dominiert, die unsere Gesellschaft der Logik des Marktes unterwerfen will. Sie wollen, dass der Markt entscheidet, wer Arbeit, Wasser und Gesundheitsvorsorge haben soll.

Ein solches System ist absolut untragbar für ein menschliches Zusammenleben. Wie damals wachsen auch heute die Spannungen und Gesellschaften, zerfallen in Feindseligkeit, und einmal mehr knien die Politiker, allen voran der USA, vor den Märkten nieder, vor machtvollen Banken und Unternehmen, und tyrannisieren die Erwerbslosen und Verarmten. Diese Politiker riskieren unser Leben, unsere Umwelt und unsere Zukunft.

Wir erleben eine Globalisierung, die unsere Menschlichkeit verneint, die die Umwelt zerstört und die Marktkräfte über die Prinzipien der Demokratie stellt. Wir leben in einer Welt, die dem Geld huldigt, und dafür die Menschenrechte verkauft. Alles wird zur Ware gemacht: unser Recht auf Gesundheit, Wasser, Bildung und Alterssicherung sogar unser Recht, Fußball zu sehen.

Wie aber soll man diese Waren kaufen? Hier kommen wir zur Finanzwelt zurück. Die Banker stehen im Zentrum der Globalisierung, sie drängen uns Kredit und Kreditkaten auf, treiben uns immer tiefer in die Verschuldung. Heute sind mehr Menschen als jemals zuvor verschuldet: Studierende, Hausbesitzer, Pensionäre, Erwerbslose. Und wenn die Immobilienpreise und die Börsen fallen - und sie tun es - dann werden Millionen in den Bankrott getrieben.

Der IWF, die Weltbank und der Pariser Club sind die übelsten Kredithaie. Sie treiben die armen Länder immer tiefer in eine riesige, unbezahlbare Verschuldung, und gleichzeitig häuft der Norden immer größere ökologische Schulden gegenüber dem Süden auf.

Heute treibt die "Globalisierung" auch die öffentliche Hand in die Verschuldung, wenn Europäische Regierungen Privatisierungen durchsetzen. Seit der Privatisierung des Gesundheitswesens in Großbritannien zahlt nicht länger die Allgemenheit, statt dessen leihen sich unsere Krankenhäuser Geld bei den Banken, und häufen so riesiege Schulden für zukünftige Generationen auf. Die Ärzte können den Interessen der Patienten nicht länger Priorität einräumen, sie müssen zuerst die Banken zufriedenstellen und ihre Schulden zurückbezahlen.

Margaret Thatcher führte den Kreuzzug an, als unser öffentliches Vermögen zu Schleuderpreisen an den Privatsektor verscherbelt wurde. Heute folgt nicht nur Tony Blair, sondern auch Gerhard Schröder und andere Europäischen Regierungen diesem Beispiel. Wie Thatcher vergöttern sie den Privatsektor, weil er angeblich so "wettbewerbsfähig", "effizient" und "profitabel" ist.

Ich will Euch sagen, wie "wettbewerbsfähig", "effizient" und "profitabel" der britische Privatsektor geworden ist: Der britische Staat ist einmal mehr der gößte Wohlfahrtsstaat in Europa. Aber es ist Wohlfahrt für die Unternehmen, nicht für die Bedürftigen Bürger.

Nehmen wir unsere privatisierte Eisenbahn Railtrack. Deren Manager bieten heute das ineffizientetste, verlustbringendste, teuerste und gefährlichste Schienenangebot Europas. Es ist mir peinlich, mit dem Eurostar von London nach Dover zu fahren - es ist so langsam, dass man meint, man fahre rückwärts in der Zeit, direkt ins 19. Jahrhundert. Aber Railtrack war sehr erfolgreich darin, Profite für die Aktionäre und Bosse zu produzieren. Statt sich an die "Marktkräfte" anzupassen, baten sie um immer neue "Beihilfen" von der Regierung. Dasselbe haben wir heute in der Atomenergie. British Energy ging gerade bankrott und bittet nun um Staatsbeihilfen, aber vor wenigen Monaten gab es noch genug Geld, um den Aktionären 50 Millionen Pfund an Dividenden zu bezahlen.

Es ist immer dieselbe Geschichte. Die Marktkräfte gelten nicht für die Kapitalisten, nicht für die Aktionäre. Und auch nicht für die Banker, die in Brasilien, der Türkei und Thailand freigekauft wurden. Nein, die Marktkräfte gelten für die Armen, die Arbeiter, die Entwicklungsländer.

Die Wohlfahrt für Unternehmen und der Protektionismus gelten nur für die USA, für Großbritannien und für Deutschland, für die Reichen und Aktionäre, nicht aber für Malawi, Bangladesh oder Nicaragua, die Erwerbslosen und die Opfer von AIDS.

In guten Zeiten sahnen die Aktionäre ab, in schlechten Zeiten zahlen wir als Steuerzahler die Zeche. Globalisierung ist Politik ohne Prinzipien, Reichtum ohne Arbeit, Geschäft ohne Gewissen.

Ich bin stolz heute hier zu sein, ich gratuliere Attac, der Gewerkschaftsjugend und der Friedens- und Erwerbslosenbewegung und allen anderen, die dazu beigetragen haben, zu diesem großartigen Ereignis.

Ich gratuliere Jedem und Jeder von Euch, das Ihr hier seid, um Geschichte zu schreiben und eine Bewegung anzuführen,
  • die die Verlogenheit und die Doppelmoral der Banken und Konzerne herausfordert,
  • die der Vergötterung des Geldes und der "unsichtbaren Hand" des Marktes entgegentritt,
  • die die Privatisierung und die Wohlfahrt für Unternehmen angreift und für einen grundlegenden Politikwechsel eintritt.
Ich bin stolz, bei Euch zu sein.

Laßt uns gemeinsam Widerstand leisten gegen dieses Schulden-produzierende Monster namens Globalisierung. Laßt uns keine Angst vor unserem eigenen Mut haben und uns der Worte Nelson Mandelas erinnern:

"Unsere tiefste Angst ist nicht, dass wir unzureichend sind, unsere tiefste Angst ist, dass wir über alles Maß mächtig sind. Es ist unser Licht, nicht unsere Dunkelheit, was uns am meisten ängstigt."

Laßt uns dieses Licht und diese Macht einsetzen - um zusammen eine Neue Welt zu schaffen!

Vielen Dank.


Links

attac - für eine solidarische Weltwirtschaft - gegen neoliberale Globalisierung
attac-Berichterstattung vom 14.9.2002 aus Köln