Ein Riese
hat sich
losgemacht


Jörg Boström
zum Tod von Richard Hiepe, Wegbereiter und Förderer der Arbeiterfotografie

Gemälde von Jörg Boström, Bildnis Richard Hiepe vor der 'Nachtwache', 1977

Für Richard Hiepe: Einen Toten spreche ich jetzt nicht an. Ich meine Dich, Richard Hiepe, als Lebenden, ausserordentlich lebendigen Mann mit kurzem Wuchs und stämmigen Bewegungen. Als ich Dich das erste Mal sah, agiertest unter einem Schwarm Studenten in Bielefeld, welchen Du auf Deine eigene, nicht übertragbare Weise die vitalen und politischen Hintergründe auch jener Kunst erläutertest, welche als Bildungsgut und Studienpflichtanteil oft allzu schwer im Magen lag. Da Du einen vitalen Zugang, Deinen ganz persönlichen, zu den Werken von Rembrandt bis Dix, von Rubens bis Timmner Dir geschaffen hattest, in geheimen, nicht immer ganz „legalen“ Tunneln, kreuz und quer zur etablierten Kunstwissenschaft, konntest Du junge Leute durch diese untergründigen Gänge führen, die den faszinierenden Geruch des Subversiven ausströmten. Kunst als Revolte, als verdeckter und verschlüsselter Widerstand. In Deinen Vorträgen und Texten erwachten die Bilder aus ihrem Bildungsschlaf, regte sich Widerstand, gegen das Vergessen, gegen die Vereinnahmung durch bürgerliche Gemütlichkeit und Innigkeit. Du rissest van Gogh und Rubens aus der Sofaecke und stelltest sie in den Fluss, in die starke Strömung der gesellschaftlichen Bewegungen. Dein eigenes Leben fandest Du darin wieder, das selbst im Opponieren, in der Dialektik des Widerspruchs, in der Aufmüpfigkeit des Denkers und Beobachters bestand, der sich mit den Verhältnissen, wie sie nun einmal waren und immer wieder sind, niemals abfindet. Deine Streitbarkeit hatte darüber hinaus etwas Gewinnendes, Du wolltest ja auch gewinnen, Deine Zuhörer und Leser zunächst, dann aber auch selbst als politischer Mensch, als zoon politikon, wie bereits die griechische Philosophie den Menschen definiert, als Mitstreiter im gesellschaftlichen Prozess. Es gibt nichts Unpolitisches. Diese Überzeugung auch von dem heute nur noch wenig, viel zu wenig gelesenen Karl Marx, lebtest Du vor. Die Kunstgeschichte, auch sie, nicht nur eine Rückschau, eine beschauliche Erbauung, sondern ein Lehrstück für Auseinandersetzungen. Du machtest in einem Vortrag bei uns in Bielefeld aus der „Nachtwache“ - welch ein schläfriger Titel - einen Aufstand, einen bewaffneten Widerstand der Holländer gegen die verhasste, spanische Diktatur. Aus dem Dunkel ins Licht. Rembrandts visuelle Lichtdramatik auch als politische Botschaft. Gerade das erste Scheitern dieses Auftrags von einer inzwischen bravgewordenen Schützengilde an den bis dahin sehr erfolgreichen Künstler schien Deine These eindrucksvoll zu stützen. In meinem Bild lies ich Dich vorangehen, aufzeigend, lehrend, kleiner aber entschiedener als diese sich wieder aufrappelnden bejahrten Helden.

Du feuertest gerne an, ein „Ermutiger“, wie Brecht Dich nennen würde. Aber „auch die Ermutiger brauchen gelegentlich Ermutigung“, heisst es dort weiter. Den Arbeiterfotografen hast Du immer wieder Funken ins Stroh geworfen. Verträgt sich Erotik mit politischem Engagement? Oder ist sie in den Massenmedien ausschliesslich Stimulanz nur da zur Steigerung der Einkaufsnöte. Du hieltest - davon gibt es ein Foto - triumphierend und listig Günter Zints Bild seiner schwangeren Frau mit fröhlich geballter Faust in die Höhe. Liebe, Lust, Emanzipation und selbstbewusste Pose und dann auch noch gestellte Fotografie, in dieser provokanten Brillanz. Welche Anhäufung von Sünden im Feld altberliner Arbeiterfotografenmoral. Nackte Liebespaare ergänzten die Debatte. Erotik gelangte in die Worte, in Bildern der Zeitschrift für engagierte Fotografie ist sie dennoch selten hochgekommen. Vielleicht doch ein Überdruss an der überquellenden Anmache an Zeitschriftenständen. Wenn es etwas zu bekämpfen gab, sprang Dir die Wortlust in die Augen. Streitkultur galt auch für Deine Kollegen. Wir standen in Essen „an der Theke“, es war ein Kongress der Arbeiterfotografen. Roland Günter hatte sein Buch „Fotografie als Waffe“ herausgebracht. Du warst mit einem kritischen Kommentar in den „tendenzen“ zu Günters Buch in die Diskussion eingestiegen. Ihr fetztet Euch. Jeder versuchte dem anderen Schwächen und Fehler nachzuweisen, besonders aber die „richtige“ oder „falsche“ Einschätzung des Werks von August Sander. Roland Günter hätte sich gerade in der „Zeitschrift für engagierte Kunst“ eine Anerkennung von Dir gewünscht. Kein Pardon. Es lebe die Streitkultur - oder war es auch Parteikultur ?

Wie ein Zuschauer beim Tennismatch lies ich meine Augen pendeln und meine Gedanken, verweigerte die Schiedsrichterrolle. Der Streit war die Spannung, die Spannung den Streit wert. Zuwenig Arbeiterbewegung - zuviel Kommunismus, die Sozialdemokratie zu sehr am Rand, das künstlerische Individuum zu viel - zu wenig - geachtet, zuviel Kritik am „bürgerlichen“ Fotografen August Sander mit seinen „Distanzierungsmerkmalen“, die Rolle der „Alternativen“ über- oder unterbewertet. Das Dreieck Rot-Rot-Grün flog mit scharf geschliffenen Kanten durch den Raum. Ducke sich wer kann. Später hast Du in Deinem Buch „Riese Proletariat und grosse Maschinerie“ zur Geschichte der Fotografie in der Arbeiterbewegung Deine Kritik an Günters Einschätzung wiederholt, sein Engagement für die sozialengagierte Fotografie jedoch ausgiebig gewürdigt. In dieser Zeit stellte die DKP, politisch fast ohnmächtig in der ehemaligen BRD, im kulturellen Bereich durch Tagungen und Kongresse, Ausstellungen und Publikationen dennoch eine treibende Kraft dar, eine Rolle in der Diskussion, die SPD und Gewerkschaften bis heute nicht annähernd so wirksam ausfüllen können oder wollen. Du warst einer der Denkfiguren dieser Bewegung, getrieben auch von der Hoffnung auf Veränderung, wie sie sich zunächst in der Studentenbewegung artikuliert hatte, die auch zur Neugründung der verbotenen KPD als DKP geführt hat, neben den spontanen Gruppierungen wie KPD/AO und -/ML und vielen anderen - auch den Grünen nicht zuletzt.

Immer spürbar war Dein politischer Optimismus, grenzenlos oder auch kalkuliert - auch methodisch? Einen Satz über mich gebe ich Dir gern zurück - gespiegelt gewissermassen, wie Du selbst Dich in Deinen widerständigen Interpretationen anderer Künstler gespiegelt hast : „ ..zeigt Boström (Hiepe) in seiner bildnerischen (wissenschaftlichen) Arbeit und in seiner Existenz, wie hoch wir Menschen von Natur aus springen und dass man uns nicht in den Flohzirkus dieser Gesellschaft nach der Wende niederzwingen kann.“ Du setztest in Deinem Text diese Worte kursiv. Welche Wende hast Du gemeint ? - der Text erschien September/Oktober 1986 - nicht 1989. Es kann doch nicht nur die „Wende“ gemeint sein von Schmidt zu Kohl! Die Wende Deiner Erkenntnis zur Unterdrückung der Protesthaltung in der Kultur der ebenso ehemaligen DDR? Biermann, Fuchs, Loest und, und, und? - Biermann hattest Du einmal zu meinem Schrecken zum Bänkelsänger herunterzuspielen versucht. Unsere deutsche staatsautoritäre und antikommunistisch stickige Tradition? Schon Heinrich Heine bedankte sich bei der Zensur, die ihn gnädig vor „dem Gekreuzigtwerden“... “bewahrte“, ihn, der so viel „Erschiessliches“ geschrieben habe.

Dich hat der Flohzirkus vor dem, was Du am besten konntest, „bewahrt“, vor der Lehrtätigkeit an einer Hochschule. Meine - Deine Generation hatte es mit Widersprüchen zu tun, die uns in die persönliche und parteiliche Opposition fast gezwungen haben. In Schule und Familie angeschwiegen zum Dritten Reich. Zur politischen Besinnung gekommen unter einem Bundeskanzler und Altnazi Georg Kiesinger, mit dem Widerstandskämpfer Willy Brandt in einer grossen Koalition, die mit dem Spruch „Mehr Demokratie wagen“ Berufsverbote für Kommunisten aussprach, welchen Du ja auch unvermeidlich zum Opfer fielst, Du konntest ja nie Deinen roten Mund halten in Konfrontation mit einer Regierung, die mit Notstandsgesetzen und dem Hochschulrahmengesetz die Studentenbewegung schliesslich handzahm machte. Solidarisierung mit der DKP aus Protest, ohne genaue Kenntnis der Verhältnisse in der DDR, Parteimitgliedschaft Deinerseits, obwohl Du wissen konntest, dass keine Partei auch die DKP - SED - andere Ziele verfolgt als machtpolitische und dass die jeweils Mächtigen auch die Künstler und Denker zuerst in ihr Boot holen und dann an die Ruderbänke der Galeere. Dein Engagement war immer brillant, eloquent, perspektivreich und versetzt mit neuen Lichtern, Dein Schweigen war vielleicht noch vielschichtiger.

Ich konnte eine erste und fast letzte Visite machen in die DDR als Gast der Redaktion „tendenzen“ und zur XX. und zugleich letzten Dresdener Kunstausstellung. Auch dort in eingen, nicht wenigen Bildern der Trotz, die Empörung, der immerhin innere, verschlüsselte Widerstand der Künstler. Ich habe versucht - im Auftrag - dies zu beschreiben für die „Bildende Kunst“, Zeitschrift des Verbandes Bildender Künstler der DDR, bekam von den Redakteuren Komplimente unter vorgehaltener Hand, als sei diese der Beginn einer Art kultureller Perestroika, aber dies ginge- noch - nicht, leider, ich wisse ja schon. Ich wusste nicht, wollte auch nicht wissen. In den „tendenzen“ dann eine brave Lobeshymne zur XX. ohne auch nur ein Streiflicht auf das kritische Potential auch dieser Kunst, nicht von Dir allerdings, denn Du hattest sie nicht gesehen, nicht sehen wollen? Kunst als Affirmation? Jedenfalls - oder auch nicht - im Osten. Warst Du jemals mit ungelenkten Augen in der DDR - oder in der UdSSR? Als die Proteste dann draussen, ausserhalb des gezähmten Kunstbetriebs in Massen und Kerzenmeeren liefen, kein Wort dazu in „Deiner“ Zeitschrift. Als wäre nichts bewegt, nichts ins Taumeln, Rutschen und dann wirklich, endlich in Bewegung geraten. Die „Zeitschrift für engagierte Kunst“ erschien einfach nicht mehr, als sei sie abgetaucht, als hätte es sie nie gegeben. War sie wirklich nur „engagiert“ wie ein gekaufter Prediger? Wie doppeldeutig kann doch dieses Wort sein: engagiert ! Geht Loyalität soweit, dass das Denken aussetzt und damit das Reden und Schreiben? Gibt es eine Parteidisziplin für Wissenschaft und Kunst? Vielleicht hat Dich dieses selbstverpflichtete (?) Schweigen stumm und zuletzt krank gemacht. Ein „Mensch in der Revolte“, wie Albert Camus ihn beschreibt, kann nicht den Kopf einziehen ohne sich selbst zu beschädigen. Richard Hiepe, lieber älterer und nun toter Kämpfer und Denker, in vielen Punkten hast Du mich und viele andere gefördert und herausgefordert. Wir haben das eine oder andere Podium mit kühnen Reden geschmückt, vielleicht auch getrieben von dem, was nach Friedrich Nietzsche die Denker brauchen, von „kräftigen Wahnbildern“. Das vorletzte Gespräch ist ausgeblieben und das letzte Podium nicht mehr möglich. Wie ich werden viele Menschen gelegentlich und immer wieder an Dich denken, Deine lebensvolle Figur im Rückspiegel, die Hiepe-Hiebe in „tendenzen“ vor Augen, die „Grosse Maschinerie“ im Kopf und „Die Taube in der Hand“.

Jörg Boström, 1999