Israels Krieg im Nahen Osten
Eine schwarze Fahne
Gideon Levy in der israelischen Tageszeitung Haaretz vom 9.7.2006


Eine schwarze Fahne hängt über der dröhnend dahinrollenden Operation in Gaza. Je weiter die Operation 'dahinrollt, um so schwärzer wird die Fahne. Die Operation 'Sommerregen', die über den Gazastreifen herfällt, ist nicht ohne Pointe, aber vor allem ist sie offenkundig illegitim. Es ist nicht legitim, 750.000 Menschen den Strom abzuschneiden. Es ist nicht legitim, 20.000 Menschen aufzurufen, ihre Heime zu verlassen und ihre Städte in Geisterstädte zu verwandeln. Es ist nicht legitim, in den Luftraum Syriens einzudringen. Es ist nicht legitim, eine halbe Regierung und ein Viertel der Parlamentarier zu kidnappen.

Ein Staat, der solche Schritte unternimmt, unterscheidet sich nicht mehr von einer Terrororganisation. Je härter die Schritte, um so monströser und stupider wird er, um so mehr verschwindet die ethisch- moralische Grundlage und desto stärker wird der Eindruck, die israelische Regierung habe ihre Nerven verloren. Jetzt sollte jeder hoffen, dass das Wochenende zu einer Veränderung führen wird – ob durch Ägypten oder den Ministerpräsidenten oder... zum Schrecken der IDF [Israel Defense Forces] - zu einem radikalen Wechsel.

Alles muss getan werden, um Gilad Shalits Entlassung zu erreichen. Was wir jetzt in Gaza tun, hat aber nichts mit seiner Befreiung zu tun. Es ist ein weitreichender Racheakt, in der Art, wie ihn die IDF und der Shin Bet schon seit langer Zeit durchführen wollte, vor allem durch tiefsitzende Frustration motiviert, dass die Armeekommandeure nicht in der Lage waren, etwas gegen die Qassams und den gewagten palästinensischen Guerilla-Überfall tun zu können. Eine große Kluft besteht zwischen der ihre Frustration auslebenden Armee und einer klugen und legitimen Operation, um den entführten Soldaten zu befreien.

Um die Armee daran zu hindern, Amok zu laufen, wie sie es gerne will, ist eine starke und vernünftige politische Befehlsebene erforderlich. Aber einer frustrierten Armee zu trotzen, dazu sind Ehud Olmert und Peretz eine zu junge, schwache und unglückliche Regierung. Bis zur Wochenendpause schien es, als ob jeder von der Armee und vom Shin Bet vorgeschlagene Schritt sofort genehmigt wurde, das lässt nichts Gutes ahnen, nicht nur für die Befreiung von Shalit, sonder auch für das zukünftige Mangement der Regierung, die sich als so schwach darstellt wie die Hamas-Regierung.

Die einzige weise und zurückhaltende Stimme von all diesen Leuten ist die des Vaters des entführten Soldaten, Noam Shalit. Dieser feine Mann rief nicht zu Härte auf und bat darum, weiteres Leben von Soldaten und Palästinensern zu schonen – sicher war es seine schwierigste Stunde.

Auf dem Hintergrund der rücksichtslosen Aktionen der IDF und dem arroganten Gerede des letzten Macho-Sprechers, des Generalmajors Yoav Gallant vom südlichen Kommando und des Majorgenerals Amos Gilad, hört sich die Stimme von Shalits Vater wie eine Stimme eines Rufers in der Wüste an.

Zehntausende armseliger Menschen aus ihren Häusern auf die Flucht zu jagen - nur einige Dutzend Kilometer von dort entfernt, wo sein Sohn vermutlich versteckt ist - und den Strom für Hunderttausende Menschen zu kappen, ist sicher nicht das, was er in seiner zurückhaltenden, aber dringenden Bitte gemeint hat. Es ist eine Schande, dass jetzt niemand von all diesen Leuten auf ihn hört.

Die legitime Basis für die IDF-Operation wurde in dem Augenblick, wo sie begann, weggezogen. Es ist kein Zufall, dass keiner den Überfall erwähnt, der nur einen Tag vor dem Überfall auf die Kerem Shalom Festung passierte, und bei dem die IDF zwei Zivilisten, einen Arzt und seinen Bruder, aus ihrem Haus kidnappte. Wo liegt der Unterschied zwischen uns und ihnen? Wir entführten zwei Zivilisten und sie einen Soldaten; wir sind ein Staat und sie sind eine Terrororganisation. Wie lächerlich pathetisch klang Amos Gilad, als er sagte, dass die Gefangennahme von Shalit 'illegitim und illegal' ist, im Gegensatz zum Schnappen zweier Zivilisten aus ihrer Wohnung. Wie kann ein ranghoher Offizieller des Verteidigungsministerium behaupten, dass 'der Kopf der Schlange' sich in Damaskus befinde, wenn die IDF genau dieselben Methoden anwendet?

Wenn die IDF und der Shin Beth Zivilisten aus ihren Häusern entführen – und das tun sie oft – dann allerdings nicht, um sie später zu ermorden. Aber manchmal werden sie auf der Schwelle ihres Heimes getötet, auch wenn es nicht nötig war. Manchmal werden sie festgenommen, um als 'Austauschobjekt' zu dienen wie im Libanon und jetzt mit den palästinensischen Parlamentsangehörigen. Was gäbe es für einen Aufruhr, wenn die Palästinenser die Hälfte der Mitglieder der israelischen Regierung entführt hätten? Wie würden wir sie dann bezeichnen?

Kollektive Bestrafung ist illegitim und es hat nicht das geringste mit Intelligenz zu tun. Wohin sollen die Leute von Beit Hanun rennen? Mit typischer Hartherzigkeit sagten die Militärreporter, sie seien nicht vertrieben worden, man habe ihnen nur 'empfohlen', die Häuser zu verlassen, um ihr Leben zu retten. Und wohin soll dieser unmenschliche Schritt führen? Unterstützung für die israelische Regierung? Als Werbung für Informanten und Kollaborateure für den Shin Bet? Können denn die armseligen Bauern von Beit Hanun und Beit Lahia etwas gegen die Qassam-Raketen-Werfer-Zellen tun? Kann das Bombardieren eines sowieso schon zerstörten Flughafens irgend etwas helfen, den Soldaten zu befreien, oder sollte dies nur die Schlagzeilen dekorieren?

Hat schon mal jemand darüber nachgedacht, was geschehen würde, wenn es Syriens Flugzeugen gelingen würde, eines der israelischen Flugzeuge runterzuholen, die unverschämterweise über den Palast des Präsidenten sausen? Hätten wir dann nicht Syrien den Krieg erklärt?

Noch ein 'legitimer' Krieg? Wird der Stromausfall in Gaza die Hamasregierung zur Auflösung bringen oder die Bevölkerung dazu bringen, sich um sie zu scharen? Und selbst wenn die Hamas-Regierung fällt, wie Washington wünscht, was wird am Tag danach geschehen? Dies sind alles Fragen, für die keiner richtige Antworten hat. Wie üblich heißt es: Pst, wir schießen. Aber dieses Mal schießen wir nicht nur. Wie bombardieren und werfen Granaten, löschen das Licht, zerstören, belagern und entführen wie die schlimmsten Terroristen und keiner unterbricht das Schweigen und fragt: Was zum Teufel geschieht hier und nach welchem Recht?

Originalartikel: http://www.haaretz.com/hasen/spages/733427.html, ins Deutsche übertragen von Ellen Rohlfs


Weiterer Beitrag zum Thema Israel/Palästina:
Wer hat begonnen?
Gideon Levy in der israelischen Tageszeitung Haaretz vom 13.7.2006

Alle Beiträge zu Israel/Palästina im Überblick:
Tagebuch Israel/Palästina
Notizen zu Israels Krieg im Nahen Osten - insbesondere gegen die Bevölkerung Palästinas
Eine schwarze Fahne
Gideon Levy in der israelischen Tageszeitung Haaretz vom 9.7.2006
Wer hat begonnen?
Gideon Levy in der israelischen Tageszeitung Haaretz vom 13.7.2006
Israels Kriegsführung gegen die (palästinensische) Infrastruktur
Mike Whitney am 2.7.2006 auf der website 'Information Clearing House'
Anhaltender Bomben-Terror Israels im Libanon ist keine Selbstverteidigung
Offener Brief an die Kanzlerin der Bundesrepublik Deutschland Angelika Merkel, Beirut, 15.7.2006
Wider die ideologische Kontrolle
Norman G. Finkelstein und sein unfreiwilliger, hochaktueller Kommentar zu Israels neuem Krieg - Eine Betrachtung zu seinem 2006 in deutsch erschienenen Buch 'Antisemitismus als politische Waffe'
Stop dem israelischen Staatsterrorismus im Libanon und in Palästina!
Flugblatt der Wiener 'Frauen in Schwarz' anläßlich der Mahnwache am 4.8.2006 (Übersetzung eines Flugblatts der Femmes en Noir, Marseille)
Der Libanon als neues Ziel - Die Neokonservativen und die Politik des 'konstruktiven Chaos'
Analyse von Thierry Meyssan (Journalist, Schriftsteller, Präsident von 'Réseau Voltaire'), 25.7.2006 - aus dem Französischen von Klaus von Raussendorff
Kriegsanlaß durch Israel provoziert?
Über den 'Ausbruch' von Israels Krieg gegen den Libanon am 12. Juli 2006
"Wir erkennen den Staat Israel nicht länger an"
Auszüge aus dem in 'Aftenposten' vom 5.8.2006 erschienenen Artikel 'Gottes auserwähltes Volk' von Jostein Gaarder
"Das Abnormalste am Krieg, an jedem Krieg, ist die Normalität, mit der er hingenommen wird"
Rede des Schriftstellers Pedro Lenz anläßlich der Friedenskundgebung 'Nein zum Krieg im Nahen Osten' am 29. Juli 2006 in Bern
Antideutsche: deutscher Ableger der Neocons
Jürgen Elsässer in 'junge Welt' vom 2.8.2006 in einem Artikel mit dem Titel 'Alte Feinde, neue Feinde'
Der Gerechtigkeit halber
Strafanzeige gegen den israelischen Ministerpräsidenten Ehud Olmert, den israelischen Verteidigungsminister Amir Peretz und den israelischen Generalstabschef Dan Halutz wegen Verbrechen bzw. Kriegsverbrechen, am 12.8.2006 erstattet durch den Hamburger Rechtsanwalt Armin Fiand
Waffentest in Gaza
Artikel von Andrea Bistrich und Interview mit Dr. Juma Al Saqqa, Facharzt für plastische Chirurgie und Sprecher des Schifa-Krankenhauses in Gaza-Stadt
"Rain Man"
Bericht von Lama Hourani aus Gaza City vom 17. Oktober 2006
Wolf Biermann und 'Die Zeit' mißbrauchen Stolpersteinkünstler Gunter Demnig
Betrachtungen zu einem Artikel in der 'Zeit' vom 26. Oktober 2006
Die ethnische Säuberung in Palästina
Vortrag von Ilan Pappe (Israel) im Rahmen einer vom Lehrstuhl Emilio Garcia Gomez der Universität von Granada (Spanien) am 26. Oktober 2006 veranstalteten Konferenz
Mekka entgegen - Muss ein Indianer das Existenzrecht der Vereinigten Staaten anerkennen?
Artikel von Uri Avnery, israelischer Friedensaktivist bei Gush Shalom, vom 17.2.2007
Eingemauerte sieht man nicht
Deutsche Bischöfe sprechen in Israel von Berliner Mauer und Warschauer Ghetto