Israels Krieg im Nahen Osten
Waffentest in Gaza
Artikel von Andrea Bistrich und Interview mit Dr. Juma Al Saqqa, Facharzt für plastische Chirurgie und Sprecher des Schifa-Krankenhauses in Gaza-Stadt, in 'junge Welt' vom 17.10.2006

Italienisches Fernsehen: Israel experimentiert bei Militäroffensive mit DIME-Munition. Palästinensische Ärzte beklagen extreme Verletzungen bei Opfern

Bild veröffentlicht vom italienischen Fernsehsender RAInews24


Seit Wochen berichten Ärzte in Gaza von ungewöhnlichen Verletzungen, die im Sommer bei den während der israelischen Angriffe verwundeten oder getöteten Palästinensern aufgetreten waren. Nun hat der italienische Fernsehsender RAInews24 erstmals eine Dokumentation darüber ausgestrahlt, die zu einem grausigen Befund kommt: Augenzeugenberichte, unabhängige Laboranalysen und die Beobachtungen der Ärzte vor Ort legen den Verdacht nahe, daß Israel im dichtbesiedelten Gazastreifen bisher unbekannte Waffen testet.

Zahlreiche Hinweise deuten dem Bericht zufolge darauf hin, daß es sich dabei um die in Laboratorien der US-Armee entwickelte Waffe DIME (Dense Inert Metal Explosive) handelt. Sie soll innerhalb eines nur relativ kleinen Radius eine extrem hohe tödliche Sprengkraft entfalten. Einer Website der US-Luftwaffe zufolge ist das Projektil mit einem Gehäuse aus Kohlefaser bestückt. Es enthält Wolframpuder und Explosivstoffe. Bei der Explosion wird das Wolfram – ein Metall, das sonst für seine Leitfähigkeit bei sehr hohen Temperaturen bekannt ist – über einen Radius von vier Metern gestreut. Die geballte Sprengkraft und die Druckwelle von DIME seien unvorstellbar, sagen Militärexperten. Sie gehen davon aus, daß die Zerstörungskraft durch die im Mikroschrapnell enthaltene Mixtur noch erhöht wird.

Die italienischen Reporter Flaviano Masella und Maurizio Torrealta stützen sich in ihrem Bericht insbesondere auf die Beobachtungen zahlreicher Ärzte in Gaza, die von schweren und ungewöhnlichen Verletzungen im Juli und August berichteten, die sie zuvor noch nie gesehen haben. Eine große Anzahl der eingelieferten Notfälle hatte Beinamputationen, vielfach waren die Opfer gänzlich verbrannt und mit einer schwärzlichen Schicht überzogen.

Dr. Habas Al Wahid, Leiter der Notaufnahme am Schuhada-Al-Aqsa-Krankenhaus in Deir Al Balah berichtete den Reportern von Fällen, bei denen beide Beine vom Rumpf abgetrennt waren, ohne daß es dabei Anzeichen gegeben hätte, daß der Verlust der Gliedmaßen durch Einwirkung von Metallteilen herrührte. Statt dessen fanden die Ärzte Hinweise auf Hitze und Verbrennungen in der Nähe der Amputationen.

Dr. Juma Al Saqqa, plastischer Chirurg und Sprecher des Schifa-Krankenhauses in Gaza-Stadt, berichtete im Gespräch mit junge Welt von kleinen Öffnungen, die die Ärzte in den Körpern der Toten und Verletzten vorfanden. Auch konnten die Ärzte einen schwärzlichen Staub auf der Haut der Verletzten sowie in den Organen selbst feststellen.

Das italienische Reporterteam von RAInews24, das 2005 auch schon aufgedeckt hatte, daß US-Truppen bei der Aufstandsbekämpfung im irakischen Falludscha »Weißen Phosphor« eingesetzt haben, ließ Gewebeproben aus dem Gazastreifen und Teile der in den Wunden gefundenen Metallstücke in einem unhabhängigen Labor an der Universität Ferrara in Italien untersuchen. Dr. Carmela Vaccaro, die die Analyse vornahm, bestätigte, daß die Proben eine ungewöhnlich hohe Konzentration von Karbon aufwiesen, gefunden wurden auch Kupfer, Aluminium und Wolfram. Diese Ergebnisse würden die Annahme bestätigen, so Dr. Vaccaro, daß es sich bei der im Gazastreifen verwendeten Waffe tatsächlich um DIME handeln könnte.

Auf die Anfrage des italienischen Reporterteams bei der israelischen Regierung, ob im Gazastreifen unerlaubte Waffen eingesetzt werden, hieß es aus dem Verteidigungsministerium, die Armee würde keine Waffen einsetzen, die nach dem Völkerrecht nicht legal seien. Allerdings, so wenden die Reporter in ihrer Dokumentation ein, könne DIME derzeit völkerrechtlich nicht gebannt werden, da sich die Waffe offiziell noch in der Testphase befände und bisher in keinem Krieg verwendet worden sei.

Quelle: http://www.jungewelt.de/2006/10-17/038.php


»Wir sind keine Versuchstiere«
Interview mit Dr. Juma Al Saqqa, Facharzt für plastische Chirurgie und Sprecher des Schifa-Krankenhauses in Gaza-Stadt, geführt von Andrea Bistrich

Auf welche Verletzungen sind Sie und Ihre Kollegen im Schifa-Krankenhaus in Gaza gestoßen, die Sie vermuten lassen, daß die israelische Armee möglicherweise eine neue Waffenart in Gaza testet?

Viele der Eingelieferten waren Widerstandskämpfer, auf die die israelische Armee Jagd gemacht hatte. Die Rettungskräfte haben uns seltsam gekrümmte Körper gebracht, die mit einer schwärzlichen Schicht überzogen waren; manche waren in Stücke gerissen; das Gewebe an den Gliedmaßen war bis auf die Knochen verbrannt, es sah aus wie geschmolzen. Wir konnten diese Menschen nicht einmal mehr identifizieren.

In nahezu allen Fällen haben wir auf der Körperoberfläche der Verletzten und Toten eine Art Staub aus winzigen Metallpartikeln gefunden. Dort, wo die Metallpartikel durch die Haut in den Körper eingedrungen waren, hatte es die darunterliegenden Gewebeschichten bis auf die Knochen weggebrannt. Bei einzelnen Opfern haben wir eindeutig diagnostizieren können, daß ein Schrapnell in den Körper eingedrungen sein mußte, ohne daß wir es jedoch im Körperinnern lokalisieren konnten. Dennoch gab es deutliche Anzeichen dafür, daß das Schrapnell die Organe angreift und zerstört, unter anderem haben wir beispielsweise die Segmentierung und Zerstörung von Leber und Milz dokumentiert, und auch starke Verbrennungen von Leber und Darm. Während der Operationen stießen wir dann zufällig auf ein sehr kleines, leichtes schwarzes Schrapnell, das nicht einmal auf den Röntgenbildern erkennbar gewesen war.

Weiterhin fiel uns auf, daß bei vielen der Notfälle die Beine oftmals bis zu den Genitalien vom Rumpf abgeschnitten waren, gerade so, als hätte man mit einer Säge auch die Oberschenkelknochen durchtrennt. Allein im Schifa-Krankenhaus hatten wir mehr als 60 solcher Amputationen.

Auch ist uns aufgefallen, daß einige Patienten plötzlich und medizinisch völlig unerklärlich starben, nachdem sie bereits als stabil eingestuft waren. Die Monitorüberwachung hatte keinerlei Probleme angezeigt, alle Vitalfunktionen waren normal gewesen. Dennoch starben sie innerhalb nur weniger Minuten. Das hat uns sehr beunruhigt und mißtrauisch gemacht, und uns zu der Vermutung bewogen, daß diese schweren Verletzungen möglicherweise von einer neuen, noch unbekannten Waffenart resultieren.

Wann sind diese ungewöhnlichen Verletzungen erstmals aufgetreten?

Unmittelbar nach der Entführung des israelischen Soldaten Gilad Schalit am 25. Juni wurden erstmals Notfälle mit den beschriebenen Verletzungen eingeliefert. Das hielt etwa sechs bis acht Wochen an. Bis zu dem Zeitpunkt, da wir Ärzte in Gaza unsere Dokumentationen und Vermutungen öffentlich gemacht haben. Seitdem scheint Israel seine Militärstrategie geändert zu haben und greift wieder auf die konventionellen Waffen zurück, die wir schon kennen.

Wie viele Notfälle mit diesen Verletzungen wurden bei Ihnen eingeliefert?

Sämtliche Notfälle, die nach Angriffen der israelischen Armee von den Rettungsdiensten zu uns gebracht wurden, wiesen diese neuen Verletzungen auf. Wir sprechen also von hundert Prozent. Ab dem Moment, da Israel wieder die traditionellen Waffen einsetzte, veränderte sich das Erscheinungsbild schlagartig.

Wie sind Sie nach diesen Entdeckungen dann weiter vorgegangen? Haben Sie Kontakt mit ausländischen Experten aufgenommen?

Ich habe zunächst eine ganze Reihe von internationalen Nichtregierungsorganisationen kontaktiert und sie über unsere Beobachtungen und Vermutungen informiert. Schließlich hat ein italienisches Expertenteam um Professor Dr. Carmela Vaccaro vom Geowissenschaftlichen Institut der Universität Ferrara Interesse gezeigt, die sichergestellten Gewebeproben und Metallstückchen zu analysieren, aber die israelische Regierung ließ sie nicht einreisen.

Also mußten wir andere Wege finden. Als eine Delegation der israelischen Vereinigung »Physicians for Human Rights« im Sommer den Gazastreifen besuchte, gaben wir ihnen die Gewebeproben und Schrapnellfunde für das italienische Team mit. Die israelischen Ärzte haben Proben mitgenommen, um sie im Technion, dem israelischen Institut für Technologie in Haifa, untersuchen zu lassen. Allerdings hat das israelische Verteidigungsministerium bisher noch keine Genehmigung dafür erteilt.

Die Analyse der gefundenen Mikroschrapnelle in Italien ergab eine sehr hohe Konzentration von Karbon, zusammen mit Materialien wie Kupfer, Aluminium und Wolfram. Laut Professor Dr. Vaccaro weisen die Funde eine große Ähnlichkeit zu der derzeit in den Laboratorien der US-Armee entwickelten Waffe DIME – Dense Inert Metal Explosive – auf. Offiziell ist diese Waffe in Kriegen noch nicht angewandt worden.

Die Welt darf nicht schweigen. Die Menschen in Gaza sind keine Versuchstiere.

Quelle: http://www.jungewelt.de/2006/10-17/042.php


Weiterer Beitrag zum Thema Israel/Palästina:
"Rain Man"
Bericht von Lama Hourani aus Gaza City vom 17. Oktober 2006

Alle Beiträge zu Israel/Palästina im Überblick:
Tagebuch Israel/Palästina
Notizen zu Israels Krieg im Nahen Osten - insbesondere gegen die Bevölkerung Palästinas
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Wer hat begonnen?
Gideon Levy in der israelischen Tageszeitung Haaretz vom 13.7.2006
Israels Kriegsführung gegen die (palästinensische) Infrastruktur
Mike Whitney am 2.7.2006 auf der website 'Information Clearing House'
Anhaltender Bomben-Terror Israels im Libanon ist keine Selbstverteidigung
Offener Brief an die Kanzlerin der Bundesrepublik Deutschland Angelika Merkel, Beirut, 15.7.2006
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Über den 'Ausbruch' von Israels Krieg gegen den Libanon am 12. Juli 2006
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Strafanzeige gegen den israelischen Ministerpräsidenten Ehud Olmert, den israelischen Verteidigungsminister Amir Peretz und den israelischen Generalstabschef Dan Halutz wegen Verbrechen bzw. Kriegsverbrechen, am 12.8.2006 erstattet durch den Hamburger Rechtsanwalt Armin Fiand
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