Krieg gegen den Terror - Analysen, Einschätzungen und Stellungnahmen
Sokrates stellte Fragen: lasst uns das Gleiche tun
Artikel von Augusto Boal, Begründer des Theaters der Unterdrückten, Brasilien, September 2001

Krieg!!! Ja, die Welt ist im Krieg. Mindestens - so weit ich mich erinnern kann - seit ich ein Kind war und meinen Vater hörte, als er von der Arbeit zurück nach Hause eilte und unserer Familie verkündete: "Paris ist gefallen!" Wo fiel es? Wer hatte es gestoßen? Warum? Was hatte Paris so Schreckliches verbrochen, dass es seinen Sturz verdient hatte? Ich konnte es nicht verstehen, ich war ein Kind - Krieg war etwas für Erwachsene, nicht für Kinder.

Letzte Woche wurde in New York Gewalt spektakulärer als jemals zuvor in der Geschichte, theatralischer und anschaulicher, ästhetisch erschreckend, extrem grausam, unmenschliches Unheil: Wir waren daran gewöhnt, solche Katastrofen im Kino zu sehen, nicht im realen Leben. Mitgefühl und schreckliches Entsetzen! Das ist der Grund, weswegen es sichtbarer geworden ist als andere Grausamkeiten, die Dörfer in Afrika schon immer verwüstet haben, Tausende von Männern und Frauen in Lateinamerika und Asien vor noch nicht langer Zeit ermordet haben und kürzlich erst in Europa.

Die Mütter des Plaza de Mayo suchen immer noch nach ihren verschwundenen Kindern: Jeden Donnerstag um 12 Uhr mittags wandern sie im Kreis herum (was für ein schreckliches Symbol!), zeigen Fotos, sprechen über ihre Kinder, als wären sie noch am Leben, bereit, nach Hause zu kommen, bevor es dunkel wird. Punkt Mittag, jeden Donnerstag, gehen sie herum und herum.... und finden sie nicht. In Buenos Aires und in vielen anderen Städten, in Argentinien und in vielen anderen Ländern suchen die Mütter des Mai ihre verschwundenen, geliebten Angehörigen.

Granada, Panama, Salvador, Nicaragua, Guatemala, Chile, Brasilien, Uruguay - um nur von meinem Kontinent und nur von den letzten drei Jahrzehnten zu sprechen: Auch sie waren Opfer erbarmungsloser Brutalität und verloren Tausende von Leben. Sicher, unsere eigenen Diktatoren haben es verbrochen: Doch wer finanzierte die Staatsstreiche?

Wenn wir fernsehen und das zertrümmerte New York auf dem Bildschirm sehen, wenn wir mit Freunden sprechen, Bücher lesen, dann kann ich es nicht verstehen: Ich halte noch an dem Glauben fest, dass die Menschheit menschlich ist - oder es werden kann, wenn wir hart auf dieses Ziel hinarbeiten! Doch unsere Augen sehen das genaue Gegenteil: Die Menschheit ist nicht freundlich, Menschen sind nicht menschlich! Lasst uns dieser Wahrheit ins Auge sehen!

Wer hat das entsetzliche Verbrechen gegen die Menschlichkeit letzte Woche begangen? Wer immer sie waren, die überlebenden Verbrecher müssen gemäß dem Gesetz bestraft werden - wenn ihre Schuld bewiesen ist und sie verurteilt worden sind! Das muss klar sein: Niemand sollte allein aufgrund von "sie sehen so aus" bestraft werden oder aufgrund von "sie sind doch alle gleich". Keine Strafe sollte über die verbrecherische Person hinausgehen, keine Bestrafung sollte auf ihre Familien übergreifen, ihre Rasse, ihre Nationalität, ihren Glauben.

Wir hören Schreie nach Rache - Auge um Auge! - Vergeltung. Wir hören von Gebetshäusern, die attackiert werden, von unschuldigen Menschen, die auf der Straße aus Rache für die zerstörten Türme angegriffen werden. Doch wir müssen uns erinnern, dass das Gesetz des Talion öffentlich die Notwendigkeit eines Richters proklamiert, um Recht zu sprechen; Recht benötigt ein Tribunal; ein Tribunal benötigt Gewissheiten und sucht nach der Wahrheit! Wahrheit ist heilsam!

Talion bedeutet Urteil, nicht Rache! Über den jugoslawischen Genozid wird nun von Internationalen Gerichtshöfen ein Urteil gefällt. Sogar Nazis, die den Holocaust betrieben haben; Nazis, die Millionen Menschen ermordet und die organisierte Massenvernichtung etabliert haben; sogar Nazis wurde das Recht auf einen Gerichtsprozess in Nürnberg zugestanden! Wenn wir eine dauerhafte, beständige Gerechtigkeit wollen und nicht gelegentlich auftretende Rache, brauchen wir Tribunale. Kein Individuum, kein Staat sollte Gerechtigkeit durch die eigenen Hände walten lassen, so wie es üblich war vor Einführung des Gesetzes des Talion! Wir sollten nicht in barbarische Zeiten zurückfallen, wir sind zivilisierte Menschen. Oder möchten es sein!

Im US-Kongress - so wurde in der Ausgabe der New York Times vom 16. September berichtet - diskutierten Abgeordnete die Möglichkeit, CIA-Agenten die Erlaubnis zu geben, Ausländer in ausländischen Staaten zu töten; diese Tötungen würden selbstverständlich ohne irgendein Recht auf einen Prozess, eine Diskussion oder Demonstration von Beweisen durchgeführt werden, ohne irgendein Recht auf Verteidigung - Tötungen, die einzig im Ermessen der Killer liegen. Dem CIA würde die Genehmigung erteilt, gewöhnliche Kriminelle zu rekrutieren, um diese Ermordungen auszuführen.

Ist es das, was mit dem Wort "Vergeltung" gemeint ist? Bedeutet "Vergeltung", dass die Angegriffenen Verbrecher werden sollen wie die Angreifer? Sollten andere Länder das Gleiche tun - da doch alle in gleichem Maße souveräne Staaten sind - sollten sie ihren Geheimdiensten erlauben, Ausländer in ausländischen Staaten umzubringen, US-Bürger auf US-Gebiet eingeschlossen?

Sollten die Mütter des Mai Terroristen werden wie diejenigen, die ihre Kinder umgebracht haben? Sollten die Mütter des Mai Granaten tragen anstelle von Fotos, Bomben anstelle von Blumen?

Sollten die gefolterten politischen Gefangenen auf der ganzen Welt sich aus ihren Gräbern erheben, wie die Geister im Bankett von Macbeth, und ihre Mörder jagen?

Wir leben in Zeiten der Verwirrung. Verstand allein wird uns befähigen, unsere Gefühle nach humanen Aspekten zu steuern. Wir müssen mit unseren Herzen denken, da bin ich sicher - das ist der richtige Weg zu denken, der richtige Weg zu handeln: mit unseren Herzen! Aber wir sollen niemals vergessen, dass wir auch Köpfe haben. Wir haben die Fähigkeit zu denken, zu verstehen.

Gesetzgeber in den USA erwägen die Möglichkeit, ein Gesetz zu billigen, durch dass Outlaws (Gesetzlose/Geächtete) legalisiert würden und zu Ermordungen angeregt würden. Sokrates würde gefragt haben: Was seid Ihr im Begriff zu tun?


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