Krieg gegen den Terror - Analysen, Einschätzungen und Stellungnahmen
Den gedächtnislosen Kriegstreibern zur Erinnerung
Rede von Käthe Reichel auf der Berliner Antikriegsdemo am 13. Oktober, veröffentlicht in 'junge Welt' vom 16.10.2001

Das Gedächtnis in den Demokratien ist erstaunlich gering. So erinnerte sich beim Aufschrei am 11. September niemand beim Schreien, daß am 14. September 1973 mit standhafter Hilfe der Vereinigten Staaten von Amerika der chilenische General Pinochet die chilenische Luftwaffe auf den Präsidentenpalast jagte, so daß die Stimme des sozialistischen Staatschefs Salvador Allende unter den stürzenden Steinen für immer brach. Dutzende starben mit ihm. Über ihrer Erde blühte 15 Jahre der Terror von Pinochet.

Die Vereinigten Staaten sind für diese 15jährige Beihilfe zum Terror niemals zur Rechenschaft gezogen worden. Und kein Gericht hat sie zu dieser offenen Zuhälterschaft am Mord eines Präsidenten - am Luftangriff auf sein Regierungsgebäude belangt, als es in Schutt und Asche lag. Aber für die Gedächtnislosen ohne Geschichtsbewußtsein - ich nenne Schröder, Fischer, Scharping, Schily, Roth und den beifallklatschenden Anhang im Parlament - birgt dieser historische "Vorläufer" in Chile nichts als den Schnee vom vergangenen Jahr.

Aber das Unerledigte bleibt ja liegen unter dem Schnee; das Unerledigte sammelt sich unterm Schnee, sickert in die Erde, wo die fließende Geschichte ihre großen Behälter, ihre Sammelbecken hat. Und sehr überraschend steht die Totgetretene auf, breitet sich das Vergessene aus den Behältern des gesammelten Zorns der Erde plötzlich aus, und das Gedächtnislose erbleicht vor ihr wie die berühmte "Torheit" bei Erasmus von Rotterdam und spricht: "Wenn mich keiner mehr loben will, lob’ ich mich selber."

Mit dieser strahlenden, niederschmetternden Dummheit haben wir es jetzt zu tun.

Was wir, gegeben diese Torheit, darum jetzt vor allem Anderen denken und behalten müssen: Mit uns leben sechs Milliarden Menschen auf der Erde. Von ihnen vegetieren vier Milliarden zum Teil an der Armutsgrenze, zum größeren Teil unter der Armutsgrenze. Das heißt: mit buchstäblichem, täglichem Hunger. Ihre Felder, ihre Äcker sind die Müllhalden in den Metropolen der Welt. Wenn sie diese Halden beackert haben ohne Ertrag, ist die letzte Hoffnung, bei der sie Gott um Beistand bitten, ein gelungener Diebstahl. Mißlingen kann den Tod bedeuten, denn die Privatpolizei der Reichen ist überall.

Diese Welt soll jetzt verteidigt werden. Diese Welt soll aufrecht erhalten werden, soll wachsen - und wir merken es alle - sie wächst jetzt in die Erste, wächst seit der Globalisierung mit Tempo in die zivilisierte Welt hinein.

In diesem Wachstum allein zeigt sich die verantwortungslose Verantwortung der deutschen Regierung, zeigt sich Europa mit 30 Millionen Menschen ohne Arbeit und zunehmender Tendenz.

Dieses wachsende Elend, das weiß die Regierung, erwächst aus der "neuen Weltordnung", eine Ordnung, in der so viele Menschen - wenn sie nicht schnellstens krepieren - eine Katastrophe für den schwächelnden, womöglich bald zusammenbrechenden Markt bedeuten, weil dann die Reichen womöglich nicht mehr täglich reicher werden, weil dann die Armen womöglich täglich essen.

Vier Milliarden Arme - selbst zum Niedriglohn, sogar zum regelrechten Hungerlohn - kann der neue Markt, kann die Demokratie nicht tragen. In der Demokratie reicht es nicht für alle, wenn sie kapitalistisch, wenn die Globalisierung kapitalistisch ist.

Allein schon dadurch, daß diese vier Milliarden atmen, reicht es nicht: Weil, wie wir alle merken, Luft, Sauerstoff zu einem kostbaren, nicht zu ersetzendem Gut geworden ist. Es ist ein Gut, das auf dem Markt verdient sein will. Sie aber, diese Elenden, verdienen nichts. Trotzdem wollen sie an diesem Gut teilhaben. Das ist im höchsten Maße ungerecht gegen alle, die es sich mühsam noch verdienen; ist ungerecht gegenüber der "grenzenlosen Gerechtigkeit", die in Afghanistan jetzt Tag und Nacht am Himmel schuftet. Diese Leute unten stehlen auf der Erde diesen Verdienstvollen oben am Himmel zunehmend die letzte Luft, den knappen Sauerstoff in dieser Welt. Dieser letzte Sauerstoff heißt: "Schneller", braucht die höchste Schnelle jetzt, ohne die kein Profit mehr auf dem globalisierten Markt zu holen ist. Was also tun? Denn - wir sagten es gerade: Die da "unten" wollen nicht nur atmen jeden Augenblick, sie wollen auch noch essen jeden Tag. Der Arbeitsmarkt ist aber leer wie eine Wüste; sie aber wollen in der Wüste essen, wo doch jedes Schulkind weiß: In der Wüste gibt es nichts zu essen. Das ist ein Naturgesetz. Der Kapitalismus ist auch ein Naturgesetz. Die "neue Weltordnung", der "globalisierte Markt" sind hilfreiche Naturgesetze, von Gott gewollt, von Gott diktiert für zwei Milliarden immerfort Hungernde, die aber jetzt erlöst werden müssen in ein - wohlgemerkt! - demokratisches Auschwitz in Freiheit ohne Stacheldraht, wo sie frei zwischen Minen selbst die Päckchen für ihre letzte Mahlzeit suchen können. Über ihren Häuptern hören sie beim Bücken das Dröhnen der heraufziehenden Bombengeschwader des Kapitals mit den Streubomben, die sich vereinen mit dem nahen Echo aus explodierenden Minen vor ihnen.

Sieben bis acht Millionen hungern in diesem Gefild in Afghanistan. Irren umher. Bald fällt dort Schnee. Wenn er sie zudeckt - und er deckt sie ja alle auf einmal zu - wäre jetzt schnell ein erster Sieg gegen den weltweiten Hunger errungen. Ein erster Sieg im Kampf um den globalisierten Markt, der seit dem 11. September aufschreit.

Schröder sagte bei seinem Machtantritt fröhlich: "Ich hätte am liebsten die schöne Kinderhymne von Bertolt Brecht als Nationalhymne gehabt. Sie gefällt mir am besten." Brecht kann ihm jetzt mit einem noch besseren Text behilflich sein. Kann ihm behilflich sein mit einem Alptraum in seinen und unseren Nächten:

"Das große Karthago führte drei Kriege.
Es war noch mächtig nach dem ersten.
Noch bewohnbar nach dem zweiten.
Es war nicht mehr auffindbar nach dem dritten."

Quelle: www.jungewelt.de


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